Zur Hauptnavigation springen Zur Suche springen Zum Inhalt springen
InstagramRSSPrint

Wort des Bischofs Christian Stäblein

Auf der 8. Tagung der V. Landessynode in Görlitz am 19. April 2024.

Verehrter Präses, hohe Synode,

es war in Reichenwalde, Ostersonntag, also vor knapp drei Wochen. Einweihung der sanierten Kirche. Sie haben dort etwas gemacht, was man heute gar nicht mehr so oft erlebt. Neben allerhand Technik und Geraderücken des Turms – der „schiefe Turm von Reichenwalde“ wurde dank fotographischer Trickkiste, ausgepackt fürs Fundraising, quasi einige Jahre von den Kindern des Ortes gestützt und gehalten, wie symbolisch das doch für unsere Kirche – ist in das alte Kirchenschiff eine Empore wieder eingebaut worden, bemerkenswert, meist begegnet uns seit zwei Jahrhunderten eher das Gegenteil, da gehen nicht mehr genutzte Emporen raus. Hier also rein. Aber: da, wo sie in Reichenwalde nun die Empore durch Stützpfeiler setzen wollten, fanden die Bauleute eine alte Gruft. Geht logisch ein Stützpfeiler nicht hin. Denkst Du erst, na dann geht’s wohl nicht. Bis die genialen Ingenieure ein Zugmodell von oben und von der Seite entwerfen. Jetzt hat Reichenwalde eine Empore, die im Raum wie von oben schwebt, wie eingeschwebt wirkt, vom Himmel hoch kommt sie her, sozusagen. Und so eine echte Neuschöpfung im Alten. Wann, wenn nicht Ostern, sollte man die einweihen. Neuschöpfung im Alten.

Das ist – und daran darf man zwei Tage vor dem Sonntag Jubilate mit seiner großen, himmlischen Überschrift, „siehe, Neues ist geworden“ gerne erinnern – die große, vielleicht die größte Erzählung unseres Glaubens: Neuschöpfung. Sie zieht sich durch die Bibel – vom Auszug aus Ägypten über die in vielem die Zeugnisse des ersten Testaments bestimmenden Heilszusagen und Glaubensentwicklungen der Exilzeit bis zu den Erzählungen von der Schöpfung, die ja wohl genau da – eben im Exil, in der Diaspora – entstanden sein dürften, getreu der Glaubenserfahrung: Der Gott, der uns wieder in die Freiheit führen wird, ist jener, der auch der Schöpfer sein muss. Das alles bestätigt sich, fast möchte man sagen: endet, aber das ist ja Quatsch, da fängt es ja an, neu an, in der Auferweckung Jesu von den Toten: Neues Leben in „alter“ Schöpfung. Nicht bloß irgendwie unmöglich erscheinendes wahres Leben im falschen, regelrecht neuen Leben im Alten. Das ist die große, vielleicht größte Erzählung unseres Glaubens: Neuschöpfung ist möglich. Oder, für moderne, säkulare Zeitgenossen formuliert: Wir können andere werden. Ja, wir sind es schon. Johanna Haberer und ihre Schwester haben das in der Oster-Zeit durchbuchstabiert. Ich bin ein anderer, ich kann ein anderer sein, Gott macht mich immer wieder zu einem anderen. Das ist ein faszinierender Gedanke, nicht nur individuell, auch gesellschaftlich, kollektiv. Die Gesellschaft kann eine andere werden. Aus ständigen Empörungsschleifen fröhlicher Mut. Aus Erschöpfungssyndromen eine neue Lust am Anpacken. Die Bibel denkt ja in den meisten Geschichten viel kollektiver als wir heute, die biblischen Zeugnisse sehen das Wir in der Regel vorweg – die Psalmen können davon ein Lied singen. Ein Wir, nicht als verschluckendes, das Individuum negierendes, nein, als das, was Individualität erst ermöglicht.

Und so sind wir für dieses Wir im Kern auch in diesen Tagen hier zusammen: Um die Kirchenneubildung, die vor 20 Jahren ihren Weg genommen hat, zu feiern, zu bedenken, daraus Kraft zu schöpfen, in dem wir uns darauf neu besinnen. Kirchenneubildung heißt es – nicht Fusion, und mit vollem Recht höre ich Sie manchmal ausrufen: Don’t call it Fusion, denn es ist Neues geworden. Manchmal hat man es als so ein spät Dazugekommener wie ich ja geradezu leicht: Ich kann mir ja gar nicht eine Kirche Berlin-Brandenburg ohne die schlesische Oberlausitz vorstellen. Ich höre neugierig und gespannt die Erzählungen von damals vor 20 Jahren, die vielen Facetten, auch manchen Schmerz, der natürlich dabei war und immer noch nachhallt, das gehört zu so einem Prozess immer dazu und es zu verschweigen wäre völlig abwegig. Aber ich höre das unter der Überschrift: Ich kann mir die Kirche nicht anders vorstellen als eben diese gemeinsame und ich teile den nicht geringen Stolz, dass das damals singulär war und aus heutiger Sicht ein echtes Vorangehen: Kirchenneubildung. Spätestens mit diesem Augenblick ist das zum Markenzeichen eben der EKBO geworden, ja in dieser Entstehung der EKBO ist das zu ihrem Wesen geworden: neue Wege gehen, experimentell sein und bleiben, im Suchen von Veränderung Neues im Alten entdecken und ermöglichen. Die EKBO ist eine Kirche, die sich allemal auf diese Weise ausstreckt. Und ich bin froh, in dieser Kirche Dienst tun zu dürfen.

„Man muss halt manchmal ein bisschen fahren“, so hat es der kluge Vinzent letzte Woche formuliert, Konfirmand aus dem Pfarrsprengel Vierkirchen, Gesamtkirchengemeinde Waldhufen-Vierkirchen formuliert. Die Konfirmanden von dort besuchen mich alljährlich und es mag auch etwas damit zu tun haben, dass ich so begeistert war, als ich die Gemeinde dort besuchen durfte – mit Kino und himmlischen Herbergen und vielen neuen Ideen. Man muss halt manchmal ein bisschen fahren – die Gelassenheit des Satzes, in dem ja gleich auch das Schmunzeln steckt, dass es gewiss eine Frage der Perspektive ist, wer denn wohl dieses „man“ ist und dass unsere Vorstellungen von Zentrum und Peripherie-Zuteilungen doch stets bloß im Auge der Betrachtenden liegen – ich habe Vinzent vorgewarnt, es könnte gut sein, dass ich ihn zitiere mit seiner Weisheit. Wer fährt, erfährt in der Regel auch etwas. –

Ob ich ihn allerdings mit meinen Überlegungen zu seiner Osterfrage zufrieden stellen konnte – Vinzent wollte doch wissen, wie ich mir das denn nun vorstelle mit der Auferstehung Jesu und wie man denn verlangen könnte, so was Irres zu glauben, dass Gott die Geschichte durchbreche und die Naturgesetze und wie ich denn das glauben könnte? Und schon waren wir aber wirklich mitten drin zwischen leerem oder vollem Grab, Auferstehung ins Wort – oder genauer: ins Kerygma, also in den Zusammenhang allen Verkündigungsgeschehens, wobei wir uns dann streiten dürfen, ob es im Geschehen selbst oder in der Rezeption des Glaubenden liegt, der eben dadurch ja erst zum Glauben kommt. Oder ob es doch einen gewissen Offenbarungsreifizierung gibt, aber supranaturalistisch – also über die Natur und ihre Wesenszusammenhänge hinaus. Im Ernst? So habe ich natürlich Vinzent nicht geantwortet. Oder in Teilen womöglich doch in aller hilfesuchenden Bewegung, die eine wunderbare Frage wie seine ja auslöst, er hat meine Antwort jedenfalls milde angehört und mit einem – ich schreibe Ihnen noch mal, was meine Frage war – quittiert. Und plötzlich dachte ich an die Geschichte, die mal der Leiter eines Predigerseminars erzählt hat und die in der Literatur bis heute die Erwin-Frage heißt: In der Geschichte erzählt ein Vikar, wie er beim Trauerbesuch von den Angehörigen die Frage bekommt, wo Erwin – also der Verstorbene, um den die Angehörigen trauern – denn nun sei. Wo ist Erwin denn jetzt? Und der angehende Pfarrer erzählt wunderbar anschaulich, wie ihm diese Frage plötzlich Schweißperlen ins Gesicht treibt, weil: hätten sie gefragt, wie die Unterschiede in der eschatologischen Vorstellung zwischen Bultmann und Tillich seien, hätte er gut antworten können. Aber wo ist Erwin jetzt? Er hat dann, so wird berichtet, freundlich geantwortet: Also ich bin Anhänger der Ganz-tot-Theorie. Staunendes Kopfschütteln. – So kam ich mir vor bei meinen mich verheddernden Antworten an den guten Vinzent und die Gruppe, aber sie waren freundlich mit mir, hatten selber prima Antworten, etwa auf die Frage, was denn in der schlesischen Oberlausitz für sie besonders schön sei: Die Badeseen, die Landeskrone, der Löbauer Berg mit der weiten Sicht, der Herrnhuter Stern – haben sie alles gesagt. Aber, merke: nicht als letztes, sondern als erstes haben sie gesagt: die Menschen. Und da dachte ich, das sind wirklich super Konfirmanden: die Menschen. Das würde Gott ja wohl auch so sehen und sagen: die Menschen. Das ist so. In Berlin und in Potsdam und in der schlesischen Oberlausitz als wunderbarer Teil dieser Schöpfung.

Man muss halt nur ein bisschen fahren. Und man muss sich nur ein bisschen umschauen, dann erfährt man viel von Neuschöpfung, von dieser großen Geschichte im Kleinen oder gar nicht so Kleinen. Im Juni etwa, da fährt diese Landeskirche mit vielen anderen nach Frankfurt zum Kirchentag, genauer: zu den christlichen Begegnungstagen. Dass jetzt hier zu erwähnen ist mehr als eine Eule nach Athen, das wissen inzwischen alle, aber vielleicht hat noch nicht jeder das schöne Motto verinnerlicht: Nichts kann uns trennen. Das steht hier auf jedem Armband in fünf verschiedenen Sprachen – das wird das Signum dieser internationalen Begegnungstage sein: Nichts kann uns trennen – Römerbrief, klar, 8. Kapitel. Nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes. Und dann und in ihr auch nicht voneinander. Das ist ein wichtiges Zeichen weit über Frankfurt und Słubice hinaus, das wir mit diesem Kirchentag setzen – vielsprachig, mitten in Europa und in Zeiten, in denen das Projekt Europa vielfach in Frage steht. Die längste gemeinsame Mahltafel Europas soll werden – was kann man auch Besseres machen, als miteinander essen und reden und ruhig auch ein wenig streiten, aber vor allem beieinander sein. Nichts kann uns trennen – Ungarn, Slowakei, Tschechien, Österreich – und natürlich, verehrter Bischof Patel, lieber Waldemar, Ihr, liebe polnischen Freundinnen und Freunde, die Ihr uns so nahe seid, die wir Euch so nahe sein dürfen, wieder, was sind wir froh darüber. Nichts kann uns trennen, verehrter Bischof, das sagen wir Euch zu und lassen uns zusagen, kein Putin, kein Krieg, kein Morden inmitten Europas – auch jetzt, während wir miteinander reden – nichts kann und darf und wird uns trennen in unserer Partnerschaft für die Menschen in der Ukraine. Über zwei Jahre währt dieser Krieg nun und wie so oft erscheint es so, als würden sich die Menschen daran gewöhnen. Und es ist furchtbar und unerträglich, dass wir so ein Sterben erleben mitten in Europa, ein Töten, das kein Ende zu nehmen scheint und alle, die da sterben, vermissen wir an unserer langen Tafel in Frankfurt und Słubice. Aber nichts wird uns trennen von unserem Wunsch nach Frieden und unserem Beistehen für die Menschen in der Ukraine und bei uns, die nicht aufhören, darauf zu hoffen, dass Europa seinen Namen der Liebe zu den Menschen und ihrer Freiheit verdankt – der Sicht darauf, der guten Sicht darauf. Es ist nicht leicht, in diesen Tagen an Schöpfung und Neuschöpfung zu glauben, wenn man in die Gebiete des Krieges schaut. Leichenfelder. –

Man mag dann festhalten, dass es nie leicht war mit diesem Glauben, schon gar nicht als er im Kreuz neugeboren wurde. Wir können uns die Rohheit einer Zeit, in der das Kreuz furchtbares, aber nicht ungewöhnliches Mordinstrument war, nicht wirklich ausmalen, bekommen aber leider in den letzten Monaten wieder eine Ahnung davon. Schöpfung und Neuschöpfung lebt in diesem Glauben an den Dunkelorten der Geschichte. Aber das zu glauben ist schwer und es von falscher Leidensverherrlichung zu trennen eine stete Aufgabe. Man gehe also zu den Ukrainern in die Kirchen, Ostern etwa. Man erlebt dort, was Vertrauen in die Auferstehung, in diese Kraft Gottes zur Neuschöpfung im Leben ausmachen kann.

Mancher mag jetzt denken: Habe ich das nicht vor zwei Jahren genauso gesagt? Und vor einem auch? Ja, einen langen Atem brauchen wir und die Kraft, dasselbe zu sagen, wieder und wieder. Ich glaube, auch das können wir von Euch, von unseren polnischen Freunden lernen: was es heißt, auszuhalten im Glauben, voller Zuversicht und Offenheit. Die Gemeinden wachsen, habt Ihr letztes Jahr bei unserem Besuch erzählt, Ihr habt Warteschlangen in der einen oder anderen Gemeinde, was den Wunsch dazu zu kommen angeht. Das ist wichtig, da hin zu hören. Die Kraft des Glaubens verflüchtigt sich nicht.

Ein langer Atem. Ein ehrliches füreinander da sein. Ein klares Wort auch zur rechten Zeit. Die Kirche der Böhmischen Brüder, unsere Partnerkirche in Tschechien, hat jetzt einen offenen Brief an den Generalsekretär des Word Council of Churches geschrieben, also den ökumenischen Rat der Kirchen, darin heißt es in aller Klarheit: one of the member churches of the WCC, the Russian Orthodox church, issued a resolution, in which it describs the war against Ukraine as a holy war against a free Ukraine and the West that has fallen into satanism. This is blasphemy, find themselves completely outside the Body of Christ.

Frei übersetzt: eine der Mitgliedskirchen des Ökumenischen Rates, die russisch-orthodoxe Kirche, nennt den Krieg gegen die Ukraine einen Heiligen Krieg gegen eine freie Ukraine und gegen den Westen, der in Satanismus verfallen ist – das ist Blasphemie, wer hier vom heiligen Krieg spricht, befindet sich vollständig außerhalb des Leibes Christi. So in aller Deutlichkeit die Kirche der Böhmischen Brüder, unsere Partnerkirche, die dazu aufruft, laut und öffentlich dieser Rede vom Heiligen Krieg zu widersprechen und sich an die Seite der russischen Dissidenten und der ukrainischen Geschwister zu stellen. Ich möchte die hohe Synode der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz ermutigen, diesen offenen Brief der tschechischen Freundinnen und Freunde freimütig und nachdrücklich zu unterstützen. Ich zolle ihnen allen Respekt für dieses klare Wort und grüße von hier unsere Freunde, den Moderator Pavel Pokorony und den Lay Moderator Jiri Schneider. Ich freue mich auf das Wiedersehen mit Euch in Frankfurt und Słubice, nichts kann uns trennen.  

Neuschöpfung. Himmlisches Werk. Menschliche Herausforderung. Mit Fragen der Schöpfung sind wir gegenwärtig besonders befasst, vor allem, wenn es um den Menschen selbst dabei geht. Die Menschlichkeit im Wortsinn steht auf dem Spiel, das ist immer so, wenn es um Grundfragen der Anthropologie geht. Was ist der Mensch? Was macht ihn aus? Was darf er, sie? Gibt es Grenzen? Welche? Man kann und man soll und muss diese Frage auf unsere wiederkehrenden ethischen Konfliktlinien um Lebensanfang oder Lebensende anwenden, das sind ja keine Themen, die sozusagen abschließbar wären. Jede Generation muss sich dem neu stellen.

Was für mich, was für uns allerdings neu dazu kommt, ist eine Auseinandersetzung mit dem, was wir Künstliche Intelligenz nennen – und was, ich weiß noch nicht mal im Ansatz wie, aber ich ahne: was in riesigem Ausmaß unser Leben verändern wird, und zwar das Alltägliche wie das Besondere, das Profane wie das Geistliche. Es gibt wenig, was Künstliche Intelligenz nicht mit der Zeit können kann. Bis vor wenigen Wochen noch versuchte ich mich mit Gedanken heraus zu reden, die in etwa lauteten: Ja, Künstliche Intelligenz, wenn man sie ausreichend füttert, wird gewiss Aufgaben menschlicher, schöpferischer Intelligenz mittelmäßig lösen und das in ihr Eingegebene klug reproduzieren und bestenfalls sinnvoll und interessant neu kombinieren können. Aber zu Brüchen, Sprüngen und wahrer Kreativität kann sie doch nicht in der Lage sein. Ich fürchte, nein ich bin mir ziemlich sicher: Das ist ein Irrtum. Mit einer gewissen Selbstverständlichkeit zeigt Dir die Forschung, dass KI überaus kreativ sein kann, dass sie auch Brüche und Sprünge ausprobiert und dass sie in dem fast aller Kreativität zu Grunde liegenden Muster von Ausprobieren verschiedenster Kombinationen unendlich schnell und unendlich unermüdlich sein kann – nicht nur kann, sondern ist. Die Herstellung von Texten, die Beantwortung von Fragen, die Entwicklung von Modellen, die Robotik dazu, die Präzision in der Technik – natürlich, klar, es braucht für all das Menschen in der Programmierung, es gibt immer noch den entscheidenden Faktor Mensch hinter all dem. Aber gerade die moderne, gegenwärtige Präsenz von Künstlicher Intelligenz im Zusammenhang von GPT – Generative Pre-Trained Transformer – ist eben gerade keine Algorithmen basierte Bearbeitung von Problemen durch abzuarbeitende Lösungsfolgen. Die sind in anderen Zusammenhängen schon herausfordernd genug, weil man ja sehr genau gucken muss, wer die Algorithmen, die das Internet und die Suchmaschinen weitenteils beherrschen, programmiert. Aber bei den GPT geht es um das sogenannte Deep Learning, das tiefe Lernen auf der Basis Künstlicher Neuronaler Netze (KNN). Das wiederum sind im Grunde mathematische Funktionen, die die Eigenschaft von Neuronen imitieren – sie arbeiten selbst organisiert, sie trainieren sozusagen ständig und schreiten dabei voran.

Ich vermute, hier sind viele Menschen im Raum, die das deutlich besser erklären und beschreiben können als ich. Worauf es mir ankommt, ist der noch mal ungeahnte Sprung, den das in der technischen – aber eben nicht nur technischen, auch mental-geistigen – Entwicklung bedeutet. Die Verantwortung im ethischen Sinn ist ja das eine, was wir bei der Frage Künstlicher Intelligenz schon eine Weile diskutieren – ob nun bei selbstfahrenden Autos, wenn sie einen Unfall produzieren, oder bei Waffensystemen, die – horrible dictu – „unmenschlich intelligent“ sind, aber ja auch Verantwortliche haben. Was wir in der Ukraine, aber jetzt auch durch den Angriff des Iran auf Israels sehen, ist ja nahe an dem, was vor kurzem noch als Science fiction galt oder besser als Dystopie: ein Krieg der Drohnen, der ihr Ziel selbstsuchenden Waffensysteme.

Aber – die ethische Frage nicht vergessend – ist es auch eine Anfrage an unsere Anthropologie, unser Verständnis vom Menschsein. In der Seelsorge stellt sich die Frage nach dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz etwa bei der Überlegung, ob es – so berichtete der leitende Notfallseelsorger in unserer Landeskirche vorgestern – in der ersten Nachbetreuung einer Katastrophe etwa nicht auch eine künstliche Intelligenz als Gesprächspartner tut. Auch bei der Begleitung und Betreuung von Einsamen ist der Einsatz nicht nur denkbar, sondern längst auch Praxis. Anderes Beispiel: die Jesus-App in Amerika ist natürlich spielend gefüttert mit der vollständigen Bibel und anderen theologischen Werken, mit allen Künsten auch der themenzentrierten oder personenzentrierten Gesprächsführung – oder was auch immer Sie wählen wollen.

Die ersten Tests mit Predigten von Chat-GPT oder ähnlichen Programen haben ja alle schon hinter sich, haben einmal über den Apparat gelächelt und natürlich lieber eine eigene Predigt ausgearbeitet. Ich zweifele nur daran, dass es das schon war. Wir stehen am Beginn einer sich rasant weiter entwickelnden, permanent lernenden Technik, bei der die Frage, ob sie auch ein eigenes Bewusstsein ausbildet, kontrovers diskutiert wird. Ich erzähle das alles nicht, weil ich mir diese Zukunft, die ja in Wahrheit Gegenwart ist, wünsche – und ich erzähle es auch nicht, weil ich meine, man müsste es verteufeln. Natürlich sind wir alle klug genug, um zweierlei zu wissen: Die Verantwortung liegt beim Menschen. Und: Keine Maschine ersetzt das menschliche Gegenüber, niemals. Aber: Dazwischen oder darauf aufbauend wird die Veränderung der Wirklichkeit durch diese Techniken noch mal revolutionär sein – ich hörte jetzt, dass man statt Googlen längst lieber prompten sollte, also ein geübt guter Befehl an den GPT-CoPilot, auf jedem modernen Suchprogramm bereits mitgeliefert. Ich habe es neulich mal ein zwei Stunden ausprobiert – die Welten, die sich da auftun, sind ein eigenes Universum. Und – mit Verlaub – ich bin alt. Die nächste, die jetzige Generation wächst damit auf und wächst hinein in ganz andere Veränderungen ihrer eigenen Wirklichkeit. Ich stelle es mir manchmal so vor wie die erste Generation mit Büchern. Und es war ein Feuer, ein Sturm, der die Welt verändert hat. Mündigkeit im heutigen Sinne, Freiheit, Urteilskraft, Hermeneutik, Zulassen von Multiperspektivität, begründet in der Auslegungsvielfalt haben in dieser Medienrevolution vor 500 Jahren ihren Sitz. Und was begründet die nächste Medienrevolution? Den Abschied vom Buch? Die Rückkehr in pure Mündlichkeitskultur. Lesen als Luxustechnik? Ein im Grunde ausschließlich mündlicher Gebrauch der Bibel? Und das sind eher die kleineren Fragen: Was ist der Mensch? Ein Bediener und Programmierer seiner Avatare? Oder ihr Diener? Was wird Freiheit sein in diesem Kontext? Und wo ist da Gott? Das Magische beherrschen ja eher die neuen Maschinen. Ist die Transformation Gottes von der numinosen Entität hinüber zum ethischen Prinzip, eine Transformation, die die biblischen Zeugnisse und die moderne Christentumsgeschichte immer wieder vorzeichnen und vollziehen, dann endgültig logischer Prozess? Oder bestätigt sich jetzt vollends die schleiermachersche Wendung des Glaubens hin zum Reflexionsakt schlechthinniger, also unabweisbarer Grunderfahrungen – das Leben verdankt, der Sinn ersehnt, die Schuldverstrickung verspürt – die Erfahrung dieser Abhängigkeiten, in der diese in Freiheit, in neue Freiheit und Schöpfung verwandelt werden. Diese neue Freiheit heißt Gott, nennen wir Gott. Auch dann, wenn der Morgen im Streit mit meiner mir zugewiesenen Assistenz Künstlicher Intelligenz darüber endete, ob mein Leben ein Ziel hat. Ja, sagt womöglich die gut mit Daten gefütterte Intelligenz, nein, sagt meine eigene Stimmung – und dann einmal die Taste für Seelsorgemodus drücken, und sie sagt: Magst Du sagen und mir zur Verfügung stellen, warum du nein meinst? Ich könnte Dir einen Text anbieten, denk mal: Gott ist dein guter Begleiter, dein Hirte, läuft hinter dir her, bringt dich zurück und in gutes Gelände. Und sieh mal, er macht alles neu.

Noch mal: kein Wunschbild, keine Dystopie, auch nicht ferne Zukunft, eher punktuell längst Gegenwart. Gestalten wir das mit? Nehmen wir Einfluss? Ich glaube, es gäbe gute Gründe, hierzu eine Arbeitsgruppe in der Landeskirche einzurichten, meinethalben einen Think Tank, vielleicht auch eine Stelle – im Amt für kirchliche Dienste: Glaube, Kirche, Künstliche Intelligenz. Arbeitsfelder, Entwicklungen, Probleme? Oder man dockt das am Zentrum für Dialog und Wandel an? Damit bin ich jedenfalls beim nächsten Thema: Das Zentrum erfährt sozusagen seine innere Neuschöpfung gerade, bleibt bei seinen Themen Begleitung der Transformation in der Lausitz und erweitert und erneuert sich über die Frage nach einer Theologie des Landes, spezifischen kirchlichen Entwicklungen und Herausforderungen im ländlichen Bereich. Ich bin froh, dass wir mit Pfarrerin Dorothee Land eine neue Leitung gefunden haben. Nach dem furiosen 2. Lausitzkirchentag hier in Görlitz vor bald zwei Jahren erfährt das Zentrum selbst einen Neustart, der uns allen guttut, im Sprengel Potsdam genauso wie in Cottbus und in all dem der ganzen Kirche. Und nicht zuletzt der Gesellschaft, die solchen Ort der achtsamen Reflexion, des offenen Diskurses, des aus Anerkennung und auf Aussöhnung ausgerichteten open space schon lange für sich entdeckt hat, hier sind ja alle dabei – weit über die eigenen Kirchengrenzen hinaus, ein neues Modell für gemeinsam im Osten.

Zusammen streiten ist wichtig – erst recht, wenn man es zusammenschreibt: zusammenstreiten. Sich zusammenstreiten. Deshalb heißt die Kampagne so, die wir nun zum Wahljahr 2024 eröffnen, um damit leidenschaftlich für die Demokratie einzutreten, für ein offenes, faires, Menschlichkeit haltendes und Menschenwürde achtendes miteinander Ringen zu ermöglichen und zu befördern. Menschennah ist unsere Kirche, von Populismus hält sie sich fern. Menschennah ist unser Glaube und unser Gott, Rechtsradikalismus und Extremismus stellen wir uns entgegen, völkische Eingrenzungen widersprechen dem universalen Anspruch unseres Glaubens ebenso wie demagogische Verdrehungen und Verhetzungen, wie sie die Partei vornimmt, die eben keine Alternative für Deutschland ist, weil sie immer offener die Demokratie unterlaufen, aushöhlen und zerstören will. Nun soll natürlich bei solchen Sätzen keiner die Kirchen mit Vereinen für Demokratie verwechseln, das sind wir nicht. Wir sind jene Institution, die – im Sinne des Wortes Institution – die Würde und Ermöglichung zur Beteiligung für unhintergehbares, dem Menschsein eingepflanztes Merkmal seiner selbst hält. Wo von millionenfacher Remigration geredet wird, ist die Würde des Menschen längst aufgegeben, verloren. Die Unvereinbarkeit von christlichem Menschenbild und rechtsradikalem Gedankengut ist schon in unserer Grundordnung niedergelegt. Und treffender als dort lässt es sich auch nicht formulieren. Ich zitiere Artikel 19, Satz 1: „Älteste können nur Gemeindeglieder sein, die sich zu Wort und Sakrament halten und ihr Leben am Evangelium Jesu Christi ausrichten; damit nicht vereinbar ist die Mitgliedschaft in oder die tätige Unterstützung von Gruppierungen, Organisationen oder Parteien, die menschenfeindliche Züge tragen.“ Damit sind eigentlich alle im Moment diskutierten Fragen erstmal beantwortet: die Mitgliedschaft oder die tätige Unterstützung, etwa die Kandidatur also. Mehr Zeit möchte ich dafür eigentlich nicht verwenden, es ist so eindeutig – und zugleich ist das Leben natürlich vielfältiger und das Miteinander-Ringen und Streiten so wichtig und das Hinhören noch mehr und das alles ist zentrale Aufgabe. Haltung zeigen. Demokratie leben. In Gottes Liebe und Menschenfreundlichkeit Haltung zeigen. Und nicht glauben, es liefe alles von selbst. Demokratie braucht tägliche Erneuerung. Im Blick auf das Ältestenamt begegnet uns die Frage. Im Blick auf das Pfarramt hören und lesen wir aus der Nachbarkirche EKM. Dort hat die Kirchenleitung jetzt in aller Klarheit gehandelt, angemessen und notwendig, wie ich meine. Und ich bitte die Pfarrvertretungen und die Pfarrvereine in allen Kirchen, achtsam – wie bisher schon – zu sein gegenüber allen Instrumentalisierungsversuchen aus dem Rechtspopulismus. Es geht um die Glaubwürdigkeit des Evangeliums.

All das braucht tägliche Erneuerung, liebe Synode, das weiß, das lebt jede Gemeinde. Sie ist ja per se ein offener Raum. Das ist ja die Stärke christlicher Räume. Dass sie nicht ideologisch gefüllt sind – ob von hier oder dort -, sondern Freiheit durch die Existenz des Dritten, des Anderen erfahren. Es sind nicht offene Räume, weil wir das behaupten. Es sind offene Räume, weil Gottes Geist sie dazu öffnet. Weshalb es gut, ja entscheidend ist, wenn Glaube nicht selbst zur Ideologie verkommt. Jede Kirchengemeinde, so verstanden, ein dritter Ort, über sich hinausweisend, wachsend. Weshalb wir – ich habe das in den letzten Monaten öfter vernommen, natürlich irgendwann auch wieder aufhören werden, unsere kirchlichen Orte im Kinderreim-Modus durchzuzählen, eins zwei drei raus, eene meene Meck und du bist weg. Darum geht es nicht. Die Rede vom dritten Ort soll ja doch vor allem Luft reinbringen in eine sich erneuernde, schöpferische, aufbrechende Kirche, soll die drohende Last ein wenig nehmen, soll Lust machen, Neues zu beginnen – und mag dabei auch sichtbar machen, dass wir das einrechnen müssen, dass es dafür Ressourcen braucht. Am Ende sind alle solche anderen Orte, von denen das ausstrahlt, was aus Gottes Geist an Freiheit möglich ist. Und auf diese Orte kommt es an, weil da ist die Kirche Kirche. Jede Gemeinde Freiheitsort, jede Religionsunterrichtsstunde Friedenskunde – nicht zuletzt im sprachfähig werden über das, was mich oder dich im tiefsten Inneren hält, was für dich oder mich unverhandelbar scheint, unbedingt angehend und doch in Sprache zu bringen. Wir stehen bereit, für einen solchen Religionsunterricht als Wahlpflichtfach auch im Land Berlin, wir sind dankbar für die enge Partnerschaft, mit der der Senat und die Senatorin das im Moment voranbringen. Wir bieten Religionsunterricht jetzt an, weit und in großem Einsatz unserer Religionslehrerinnen und Religionslehrer. Und wir tun das gerne auch zukünftig. Wir rufen aus der Friedensstadt Görlitz Richtung Berlin: Religionsunterricht ist Friedensunterricht, den das Miteinander der Gesellschaft und der Religionen braucht.

Die Kirche ist creatura verbi, Geschöpf des Wortes, Geschöpf Gottes. Sie lebt davon, dass Gott sie neu werden lässt, dass er Schöpfer bleibt und sie nicht fallen lässt. Schöpfung, Erneuerung, Neuschöpfung ist das Werk dieses Wortes.

Der Fall der Kirche darf dabei nicht übersehen werden. Zu dem folgenden Thema, ich sage das nicht zum ersten Mal, gibt es keine Überleitung. Und es darf auch keine geistliche Verkleisterung geben. Mit dem an die Öffentlichkeit treten der FORUM-Studie am 25. Januar kann es niemanden mehr geben, der um den Schrecken der sexualisierten Gewalt in der evangelischen Kirche und eben auch in unserer Kirche nicht wissen will oder kann: Das Ausmaß der sexualisierten Gewalt, die doppelte Schuld, dass diese Gewalt möglich war und stattgefunden hat und dass die Aufarbeitung so schleppend, zögerlich, lange gar nicht richtig stattgefunden hat. Dass Betroffenen nicht geglaubt wurde, sie weggeschwiegen wurden, allein gelassen, stigmatisiert, eben doppelt missachtet wurden. Die Stärke und Bedeutung der FORUM-Studie besteht als erstes darin: Sie bringt die Betroffenen zu Gehör, sie macht ihre Stimme laut.

Wir haben uns schuldig gemacht, liebe Schwestern und Brüder, die Kirche hat sich schuldig gemacht, sie hat verletzt, verraten, nicht hingeschaut, hat Strukturen geduldet und nicht verändert, die den Missbrauch begünstigt und ermöglicht haben.

Wir werden einen Zwischenbericht hierzu von unserer Pröpstin hören, der aufzeigt, wie die spezifische Situation in unserer Landeskirche und der Stand, was wir tun, gegenwärtig ist. Ich möchte an dieser Stelle deutlich sagen: es ist gut, dass es die umfassende, EKD-weite Studie des Forschungsverbundes jetzt gibt. Es ist wichtig, dass es jetzt sofort weiter geht, also die Unabhängigen Regionalen Aufarbeitungskommissionen eingesetzt werden. Wir stehen hierfür vor der Unterzeichnung des gemeinsamen Verbundes mit der Nordkirche und den Diakonischen Verbänden hier wie dort. Entscheidend ist, dass sich die Strukturen – die Studie spricht immer wieder von Verantwortungsdiffusion als spezifisches Merkmal der evangelischen Kirche – und dass sich mit den Strukturen auch die Verantwortungswahrnehmung verändert, genauer: dass wir sie endlich verändern. Wir sind das den Betroffenen schuldig. Wir sind das uns selbst schuldig. Wir sind das einer Kirche schuldig, die ja mit jedem Fall sexualisierter Gewalt widerlegt ist, in ihren eigenen Abgrund schaut. Es wird anders werden.

Das betrifft auch unser Selbstbild, das – ich sage das auch für mich – das unverantwortlich lange in einer gewissen Selbstgewissheit verfangen war, das Ausmaß sexualisierter Gewalt sei in der evangelischen Kirche nicht so groß. Im Blick auf die Änderung von Strukturen, klaren Verantwortungsübernahmen und Konsequenzen im eigenen Selbstbild sind wir am Anfang – das sage ich für unsere Landeskirche, das sehen wir auch in der EKD, deren Synode sich im November mit weiteren Konsequenzen aus der Studie befassen wird. Dazu gehört auch, dass wir uns dem stellen, dass noch lange nicht alle relevanten Akten gesichtet worden sind. Ohne das wird es nicht gehen.

Wir rufen Betroffene auf, sich an uns zu wenden. Dass sie gehört werden. Dass wir endlich anerkennen, was war. Wir tun, was jetzt geboten ist: Anerkennungskommission, Prävention, Intervention, Schutzgesetze, Verhaltenscodices, Schulungen.

Wir kommen trotzdem, und das müssen wir aussprechen, zu spät. So stehe ich heute hier. Demut ist ein großes Wort. Besser wir tun, als dass wir davon zu viel reden. Tun ist jetzt gefragt.

Die große Geschichte der Bibel ist die der Neuschöpfung. Der andere Duft, das Leben in der Auferstehung. Ein Stück und mehr als nur ein Stück Durchgang durch den Tod haben wir mit der Corona-Pandemie erlebt. Anders als bei anderen Erfahrungen wird kaum jemand behaupten können, er oder sie sei nicht dabei gewesen. Wir erinnern uns an den abrupten Abbruch aller vertrauten Lebenszusammenhänge mit dem ersten Lockdown im März 2020. Der erste Lockdown endete im Mai 2020, es waren etwa sechs Wochen. Und weil es in Sachsen eine Woche früher mit den Gottesdiensten wieder losging als in Berlin und Brandenburg, erinnere ich noch gut, wie ich am 3. Mai hier in der Kreuzkirche in Görlitz zum Gottesdienst war, eine Woche später dann in St. Marien in Berlin in Anwesenheit von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Frau Büdenbender. Danach – um das auch einmal zu erinnern – hat es in der EKBO keinen flächendeckenden Gottesdienst-Lockdown mehr gegeben, zu keiner Zeit. Und in allem Für und Wider und dem Druck von der einen wie der anderen Seite haben wir als Kirchenleitung konsequent durchgehalten, dass es immer die Empfehlung gab, wo es die Verantwortlichen vor Ort verantworten können, Gottesdienst zu halten. Und wo nicht, eben nicht. Ich rede jetzt vom Gottesdienst unter physischer Anwesenheit – kreative Formate digital, aber auch kreative Formate analog mit Gottesdienstheften am Gemeindehauszaun, Telefongottesdiensten und vieles mehr hatten wir reichlich und fröhlich. Viel Neues, zuvor nicht Gedachtes, war geworden. Neuschöpfung. Dem Narrativ, wir hätten zugemacht, ist nachdrücklich zu widersprechen. Aber darum geht es heute ja weniger.

Heute geht es in der Rückschau mit allem Recht darum, dass wir kritisch gucken, wo wir etwas nicht richtig eingeschätzt haben, ja wo wir mit dem Wissen von heute anders handeln würden und wo wir bei einer nächsten Pandemie – Gott behüte – hoffentlich anders handeln werden. Der erste Punkt, den wir dabei festhalten: Ja, wir haben Kindern und Jugendlichen zu viel – und zwar, wie wir heute wissen – auch unnütz viel zu viel zugemutet und viel zu viel verboten. Wir können das nicht mehr ändern. Es ist einer der Gründe, warum ich mich dem vielfach geforderten sozialen Pflichtjahr nicht anschließen mag. Diese Generation hatte gerade erst mehr als genug Pflicht – und sie wird mit Blick auf diese Welt noch genug Pflichten vor sich haben, sie brauchen keine Pflichtjahre, um zu begreifen, was diese Welt braucht. Ich glaube, eine Entschuldigung, wenn wir sie im Moment aussprechen, gilt als erstes gegenüber den Jugendlichen und Kindern dieser Jahre. Auch ich habe nicht genug für sie gerufen und gebrüllt.

Mir scheint, es geht im Moment gar nicht als erstes um Entschuldigungen, es geht als erstes um ehrliches Miteinander reden und sich zumuten, was in der Rückschau und für ein notwendiges lesson learned aufscheint. Dass wir da ehrlich zuhören und ins Gespräch kommen, das ist Bedingung dafür, dass wir einander wieder in den Blick bekommen. Die Zeit war, und das ist verständlich, sehr angstgetrieben – Angst durchaus im positiven Sinn, denn sie bewahrte davor, andere leichtfertig zu gefährden. Aber Angst ist selten ein guter Ratgeber für maßvolles Handeln und genau deshalb ist die Rückbetrachtung nun so wichtig. Wo nehmen wir uns vor, wenn eine neue Pandemie wieder Ängste schürt, maßvoll zu bleiben? Wie achten wir darauf, dass dann, wenn wir selbst innerlich betroffen sind, unsere Sprache nicht maßlos und verletzend wird? Ich wünsche mir das von allen Seiten bei der Rückschau. Ich versuche das als erstes bei mir selbst. Und natürlich auch die Frage: Wie reden wir von unserem Glauben in der Krise? Wie wird diese Rede wirksam? Treibt uns Angst um uns oder das Vertrauen auf Gott? Aber auch: wo wird das Vertrauen auf Gott zum Instrument, bei dem andere aus dem Blick geraten? Was gebietet die Nächstenliebe? Das war und bleibt eine zentrale Frage. Und wo gerät umgekehrt auch die Rede von der Nächstenliebe in Gefahr, ideologisch zu werden? Nur wenn wir aufeinander hören, auch in diesen tiefen Glaubensfragen, werden wir nicht automatisch in dieselben Fehler geraten. Wobei – auch das denke ich, dürfen wir sagen: Nicht das Falsche überwog, sondern das gemeinsame Bemühen, Leben zu schützen. Und in all dem Glauben und Vertrauen auf Gott zu bezeugen.

Die Krankenhaus- und Altenheimseelsorge war da. Bei allem, was auch schiefgelaufen ist, ist mir wichtig, das laut zu sagen: Sie waren da, wir waren da. Mit Gesang vor dem Balkon, eines der besten Mittel, um sich selbst wie neu geschaffen zu erleben, durch die Stimme der anderen, durch die eigene Stimme. Sie waren da – am Sterbebett, am Krankenbett. Und sie sind es auch jetzt. Ich habe im letzten halben Jahr die Krankenhausseelsorge visitiert und darf weitersagen, was sie gewiss wissen: mit sehr begrenzten Ressourcen wird in der Krankenhausseelsorge unserer Kirche phantastisches geleistet. Täglich. Kaum gesehen. Aber eigentlich immer unglaublich begrüßt – weit über unseren Kirchenhorizont hinaus. Krankenhausseelsorge ist mitten in dieser Welt und sie ist da, wo Ostern Thema ist: Vergehen. Neu werden. Gott ist da. Im letzten Atemzug. Die Ewige. In ihre Nähe, in ihr Licht, in ihre Wärme glauben wir uns gezogen. Kurz vor Beginn der Pandemie haben wir Andreas Böer zu Grabe getragen. Wie er doch fehlt. Und wie wir vertrauen, dass Gott ihn umfängt. Schöpfung. Und Neuschöpfung. Ich will an ihn erinnern heute. Jetzt. 

Die Krankenhausseelsorge visitierend hat es einen Satz gegeben, den muss ich Ihnen weiter sagen, weil er so schön ist: Der ärztliche Direktor der Klinik in Hoyerswerda hat ihn mitten im Gespräch gesagt. „Ohne Seelsorge möchte ich hier nicht mehr sein.“ Es ist Dienst an der Welt, Dienst am Menschen. Alte Worte. Aber so schlicht kann es sein. Danke. Wie soll ich es sagen: das lösende, das gute Wort oder die richtige Geste am Sterbebett, das ist wie eine einschwebende Empore in Reichenwalde. Und es ist ganz klar: in dem das geschieht, geschieht Schöpfung neu, fängt Leben an. Das ist die größte Geschichte – ich habe nichts dagegen, wenn RTL, wie dieses Jahr wieder, in der Passionswoche dafür sein Programm einen Abend freiräumt und darauf ausrichtet. Lieber die größte Geschichte als ständig Dschungelcamps. Da hält ja auch kein Stützpfeiler und dann musst Du eben eine Empore haben, die einschwebt. Und Kinder, die manch schiefen Turm unserer Kirche halten. Reichenwalde eben. Was für ein schöner Ortsname übrigens, fast dächte ich: ein toller Name für die ganze Kirche. Aber die Agentur, die wir mal über unseren Namen gucken lassen haben, hat schon vermeldet: EKBO? Nicht immer verständlich, aber eine Marke zum Verlieben. Sagen die von ziemlich fern. Das freut dann doch. EKBO – Evangelische Kirche bunt und originell. Ein kerniges bisschen Osten. Oder einfach und schlicht: evangelisch im Osten.

Wer sich nun wundert, wieso denn die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung vom letzten Bericht – entgegen der Ankündigung – nicht ausdrücklich auftaucht. Die Kirchenleitung hat sich intensiv darauf eingelassen, intensiviert das in den nächsten Monaten noch mal. Und ich denke, die Jugendsynode könnte ein guter Ort sein, um diese fundamentalen Betrachtung für die Kirchen in Gegenwart und Zukunft kräftig in den Plan zu nehmen. Die damit verbundenen Fragen werden ja eher größer als kleiner.

Wir tagen in einer alten Synagoge. Wand an Wand mit den Räumen, die heute jüdischem Leben, jüdischem Glauben und jüdischen Beten Heimat und zu Hause geben.

Wir tun dies in einer Zeit, in der wir ein furchtbares Auflodern längst überwunden geglaubten Antisemitismus in unserem Land erleben. Dem wir uns entgegenstellen. Mit unseren Stimmen und mit unserem Auftrag. Mit allem, was uns gegeben ist. Wir tun dies in einer Zeit, in der das Land Israel vor einer Woche mit Drohnen und Marschflugkörpern aus dem Iran angegriffen wurde. Seit Wochen und Monaten sehen wir den 7. Oktober und die Folgen, die Geiseln, die immer noch gefangen gehalten und drangsaliert werden. Das schreckliche Morden. Und den furchtbaren Krieg in Gaza, der so viel Leid über die Menschen dort, über die Palästinenser gebracht hat. Wir wissen darum und wir wollen und sollten niemanden vergessen in diesem Leid. Es ist ja unerträglich, was da geschehen ist, hier wie dort.

Unsere Verantwortung ist, glaube ich, in diesem Raum und unter dem Ruf – lasst die Geiseln frei, bring them home, und beendet das Morden, den Krieg, beendet das Töten in Gaza – eines laut zu sagen, womit ich jetzt dann enden will: A‘m jisrael chai! Chai! Chai! Das jüdische Volk lebt. Lebt. Lebt. In dieser Welt. Als Gottes Augapfel. Dass die Welt nicht blind werde. Unser Glaube ist da hineingepflanzt. Und so ist das unsere Pflicht. Gottes Liebe. Unser Leben.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit!

 

Das Wort des Bischofs können Sie hier als PDF-Datei runterladen.