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Basislager für Demokratie vor Ort

Generalsuperintendentin Ulrike Trautwein schreibt über ihre Erfahrungen in Ost und West mit der evangelischen Kirche

Ulrike Trautwein. Foto: EKBO
Ulrike Trautwein. Foto: EKBO

Dieser Artikel ist in der Wochenzeitung "die kirche" erschienen.

Ulrike Trautwein ist in Hessen aufgewachsen und hat dort als Pfarrerin gearbeitet. Seit 2011 ist sie Generalsuperintendentin für den Sprengel Berlin der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Sie kennt evangelische Kirche in Ost und West und sieht eine Überlagerung von alten Unterscheidungen durch neue gemeinsame Herausforderungen.

Von Ulrike Trautwein

Kirche in Ost und West – bei mir tauchen viele Bilder auf, die sich schnell wieder entziehen, wenn ich versuche, sie zu fassen und festzuschreiben. Schnell entpuppen sich einige von ihnen lediglich als Projektionen und Zuschreibungen. Das ist zumindest meine persönliche Erfahrung.

Wenn ich zurückblicke auf die Zeit vor dem Mauerfall, bin ich heute noch erschrocken, wie wenig ich über die damalige DDR wusste. Erst recht nicht über das dortige Kirchenleben. Was ich wusste, war wenig mehr als ein blasses Abziehbild vom Osten, wenig mehr als politische Kampflinien und unklare Umrisse. Mit meinem Antritt als Generalsuperintendentin von Berlin war mir sofort klar, dass ich das nachholen muss und will. Weil mir wichtig ist zu verstehen, wie das gewesen sein muss: Kirche in einem kirchenfeindlichen Staat zu leben. Ich will nachspüren, was das mit einem macht, wenn man für den eigenen Glauben gehänselt, benachteiligt und verfolgt wird und trotzdem weitermacht.

Ich erinnere mich, wie wir mit der zwölften Klasse die obligatorische Berlin-Fahrt als Teil der politischen Bildung unternommen haben. Damals war die Fahrt durch West- und Ostberlin für mich als Teenager eher eine spannende Kulisse für meine eigene Suche nach Autonomie. Aber wirklich geblieben in Herz und Seele sind mir die Eindrücke von der Grenzanlage. Irgendwo in der Nähe vom Potsdamer Platz muss das gewesen sein.

Wir stiegen auf eine Aussichtsplattform, gezimmert aus Holz, ein bisschen wie ein Jägerstand. Ich fand das damals absurd. Da müssen Jeeps und Hunde gewesen sein, breites graues Niemandsland und Scheinwerfer. Ganz sicher bin ich nicht, ob das wirklich meine Bilder von damals sind oder sich da schon etwas überlagert hat. Aber ich weiß noch genau, wie es sich angefühlt hat. Ich war doppelt erschrocken: Natürlich über diese militärischen Zeichen von Gewalt; der Schreck vom Osten, wie wir ihn schon beim Grenzübergang gespürt hatten mit maschinenpistolenbewehrten, barschen Grenzern und Hunden. Das war das eine.

Trennungsstreifen als touristische Kante

Aber absurd fand ich auch dieses Zurschaustellen der Grenze, für mich und für alle, die aus dem Westen in den Osten blicken sollten. Uns wurde gezeigt: „Schaut mal, wie furchtbar es drüben ist.“ Mit dem unausgesprochenen Nebensatz an die Rebellischeren unter uns Jugendlichen: „Und wenn es dir bei uns nicht gefällt, dann geh doch rüber!“ Und ein Bild hat sich eingebrannt: Vor dem Turm, zwischen Mauer und Balustrade häuften sich rote Cola-Dosen – der ganze Müll, der geblieben war von denen, die sich wohlig-schaudernd den Trennungsstreifen als touristische Kante des Kalten Krieges zu Gemüte führten.

Dieser gefühlte Westen und dieser gefühlte Osten, diese Eindrücke habe ich nicht vergessen: hier selbstbewusst, arrogant und überlegen, von oben herabschauend – und auf der anderen Seite eben nicht auf Augenhöhe gesehen werden.

In Jugend, Ausbildung und ersten Arbeitsjahren war Kirche Ost/West für mich weiter voller diffuser Bilder und Emotionen geblieben. Aber der Blick auf die Grenze, der blieb mir in den Knochen.

Erst später habe ich gemerkt, wie gerade diese Erfahrungen und Bilder in mir weitergebrodelt und weitergewirkt haben. Sie wurden mir wieder präsent, als ich im Winter 2011 als Generalsuperintendentin nach Berlin kam. Mich berührte tief, dass ich in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche eingeführt wurde und dass ausgerechnet sie nun meine Predigtkirche ist. Für mich bleibt sie ein zentrales und wirkungsvolles Symbol für die getrennte und verletzte Stadt, wie für viele Berlinerinnen und Berliner, egal ob im Ost- oder Westteil.

Unglaublich gefreut hat mich, wie liebevoll und mit welch großer Wärme mich einer meiner Vorgänger, Martin-Michael Passauer, begrüßt und aufgenommen hat. Von Anfang an hat er mir ganz offen seine Unterstützung und Begleitung angeboten. Das war genau das Gegenteil des Klischees einer gegenüber dem Westimport misstrauischen, sich abgehängt fühlenden Ost-Kirchenleitung.

Bis heute erlebe ich eine große Ernsthaftigkeit bei Menschen und Traditionen, die von den Kirchen der ehemaligen DDR geprägt wurden. Ich spüre sie auf allen Ebenen von Kirchenleben, in den Ortsgemeinden, bei den Kirchenkreisen und in der Leitung. Mit ihr einher geht oft ein intensives Beharren auf der Souveränität der Ortsgemeinde und eine kritischere Haltung gegenüber Obrigkeiten, die ich in dieser Vehemenz bisher nicht gekannt hatte. Aber eingeschrieben in Tausende Lebensgeschichten und lebendige Erinnerungen an kleine Taufen und wenige Konfirmandinnen und Konfirmanden, an Junge Gemeinden, die ein Leben lang prägen, zeigt sich mir: wirklich ernstes Glaubensleben. 

In den Geschichten von Diskriminierung und Ausschluss ganzer Familien wird mir deutlich, welche brutalen und handfesten Folgen gelebter Glaube haben kann. Das hat sich mir eingeprägt. Mit dieser Ernsthaftigkeit zusammen nehme ich eine bleibende Vielfalt an lokalen Gottesdiensttraditionen, Kreativität, Solidarität und Zusammengehörigkeit wahr, und zwar viel stärker als Unmut und Verunsicherung seit den 1990er Jahren, seit dem massiven Umbruch von Arbeitsmarkt und Kultur.

Mit diesem ernsthaften Glauben sind Kirchengemeinden in Berlin, Brandenburg und Sachsen heute immer noch und wieder Basislager für Demokratie vor Ort und gegen Fremdenhass und Antisemitismus.

Richtig fassbar und fühlbar wird mir heute Kirche Ost/West aber, wenn ich dort stehe, wo sie tatsächlich räumlich aufeinandertreffen: In der Versöhnungskapelle auf dem ehemaligen Todesstreifen an der Bernauer Straße in Berlin-Mitte, Gotteshaus einer Kirchengemeinde mit Menschen und Boden in Ost und West. Pfarrer Manfred Fischer  – wie ich aus Frankfurt stammend – hat das mir und vielen, vielen anderen möglich gemacht. Auf ihn geht das Konzept der Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße und der Kapelle maßgeblich zurück.

Hier sehe ich den neuen Reichtum von Eigentumswohnungen in Mitte-Ost gegenüber den engen Wohnbauten in Wedding-West. Ich kann auf ehemaligen Fluchttunneln stehen und Wachtürme erahnen und ein Roggenfeld bewundern, mitten im ehemaligen Niemandsland. Ich kann in einem wunderschönen Gottesdienstraum stehen, der aus den zermahlenen Resten der am 28. Januar 1985 gesprengten Versöhnungskirche erneut aufgeschichtet wurde. Die Versöhnungskirche gab es schon lange vor der Mauer und jetzt gibt es sie wieder.

Kirche bleibt und wird doch anders mitten auf dem Grenzniemandsland. Hier erinnern Glaubende an auf der Flucht Verstorbene – und das schließt heute neben den an der Mauer Getöteten auch die Toten der europäischen Außengrenzen ein. Alte und manchmal überholte Unterscheidungen werden von neuen, drängenden, gemeinsamen Herausforderungen überlagert. Hier spüre ich im Erbe die Transformation von Kirche und Kirchenbildern, und jetzt auch schon jenseits von Ost/West und wie sie heute für uns alle relevant werden können.