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Motor des jüdisch-christlichen Gesprächs: Vor 100 Jahren wurde der Religionswissenschaftler Ernst Ludwig Ehrlich geboren

Als Judaist und Historiker war er eine der wichtigsten Stimmen im Dialog zwischen Juden und Christen, als dieser nach den Schrecken der Schoah zaghaft begann. Vor 100 Jahren kam Ernst Ludwig Ehrlich in Berlin zur Welt.

Berlin (epd). Seine Mutter wurde in Auschwitz ermordet, er selbst entging nur mit knapper Not der Deportation. Und doch suchte der Judaist und Historiker Ernst Ludwig Ehrlich (1921-2007) sein Leben lang mit großer Leidenschaft das Gespräch zwischen Juden und Christen. "Ich habe beide Seiten gesehen", sagte er einmal. "Einerseits konnte ich die Mörder meiner Mutter nicht vergessen, andererseits habe ich die Menschen in Erinnerung behalten, die mir geholfen haben." Menschen, "denen ich mein Leben verdanke, die mir Unterschlupf gewährten". Vor 100 Jahren, am 27. März 1921, wurde er in Berlin geboren.

"Ehrlich war ein beeindruckender Denker und Religionsphilosoph", so würdigte ihn Rabbiner Walter Homolka zum 100. Geburtstag. "Den Dialog mit den christlichen Kirchen hat er kritisch geführt und vorangetrieben und das schon kurz nach der Schoah." Homolka ist Direktor des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks, des Begabtenförderungswerks der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland.

Antisemitismus begegnete Ehrlich schon in der Kindheit. Als sein Vater starb, war er 15. Zwei Jahre später wurde die jüdische "Private Waldschule Grunewald" geschlossen, an der er eingeschrieben war. Am Tag der Reichspogromnacht, am 9. November 1938, beschlagnahmten die Nazis den Grundbesitz der Familie. Die Bemühungen der Mutter um eine Auswanderungserlaubnis blieben erfolglos.

Ernst Ludwig Ehrlich schaffte es in dieser Atmosphäre, 1940 das Abitur zu machen und am liberalen Berliner Rabbinerseminar sein Studium aufzunehmen. Die Lehranstalt war geprägt von Leo Baeck, einer Zentralgestalt der Juden in Deutschland. Ehrlich erinnerte sich später, welche Rolle das Christentum, besonders das Evangelium, in Baecks Vorlesungen gespielt habe. "Eine gespenstige Vorstellung, wenn man sich vergegenwärtigt, wann dies geschah: in den Jahren, als sogenannte Christen ihren Herrn Jesus Christus immer aufs Neue ans Kreuz schlugen, indem sie sich millionenfach an Juden vergingen."

1942 wurde das Rabbinerseminar geschlossen, Leo Baeck nach Theresienstadt deportiert. Von seinen Studenten überlebten nur drei die Verfolgung. Ehrlich musste in der Deutschen Waffen- und Munitionsfabrik Borsigwalde Zwangsarbeit leisten, was ihn erst einmal vor der Deportation rettete. Obwohl die Schweizer Regierung im August 1942 ihre Grenze für jüdische Flüchtlinge geschlossen hatte, schaffte Ehrlich 1943 die Flucht in die Schweiz - mit Hilfe engagierter Christen. Seine Mutter wurde deportiert und ermordet.

Mit einem winzigen Stipendium begann er, an der Basler Evangelisch-Theologischen Fakultät Altes Testament, Islamwissenschaft, altorientalische Sprachen und Archäologie zu studieren. Das Geld reichte gerade für die Miete, zu essen bekam er bei jüdischen und christlichen Familien.

Nach dem Zweiten Weltkrieg pendelte Ehrlich eine Zeit lang zwischen Berlin und der Schweiz hin und her, fühlte sich bisweilen in Berlin mit einem "recht erfreulichen" nazi-kritischen Klima "sehr zu Hause", erklärte dann 1952 aber wieder voller Überzeugung: "Der Sinn für Demokratie fehlt den Deutschen restlos."

Ehrlich verfasste wissenschaftlich solide gearbeitete und gleichzeitig für interessierte Laien geeignete Bücher wie "Geschichte Israels" oder "Jüdisches Leben und jüdische Kultur in Deutschland: Geschichte, Zerstörung und schwieriger Neubeginn". Ab 1955 nahm er Lehraufträge für Judaistik an den Universitäten Frankfurt am Main, Basel und Zürich sowie an der Freien Universität Berlin wahr.

Er beriet Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) und Bundespräsident Roman Herzog - und wurde zu einer bedeutenden Stimme im zaghaft beginnenden Gespräch zwischen Juden und Christen. Damit sich Diffamierung, Entrechtung, Verfolgung und millionenfacher Mord nicht wiederholten, damit sich ein neues jüdisches Leben in Europa aufbauen könne, gab es für Ehrlich nur den Weg des unermüdlichen Gesprächs, des Kampfes um gegenseitiges Verständnis und um Zusammenarbeit im Interesse der gemeinsamen Werte.

Er war bei fast allen Katholikentagen und Evangelischen Kirchentagen in Deutschland seit 1966 dabei, diente der Schweizer "Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft" von 1958 bis 1996 als Generalsekretär. Fast genauso lang war Ehrlich Direktor des europäischen Distrikts von B'nai B'rith - einer jüdischen Organisation, die sich für Toleranz, Humanität und soziale Arbeit einsetzt.

Ein Leben geprägt von Aufklärung, Gespräch, Versöhnung: Verdrängte dieser hochgebildete, engagierte, fromme Intellektuelle die Realität, die Schoah, den Antisemitismus? Als er 2007 im Schweizer Ort Riehen starb und auf dem Friedhof von Or Chadasch in Zürich bestattet wurde, wandte sich der evangelische Theologe Ekkehard Stegemann leidenschaftlich gegen so ein Denken: "Er kannte den Alptraum der Geschichte nicht nur aus Büchern. Er wusste, dass es illusionär ist, von der Stabilität einer menschlichen Gesellschaft und einer fraglos tragenden Ordnung des Rechts und der Humanität auszugehen", so Stegemann über Ehrlich: "Der barbarische Untergrund der europäischen Zivilisation, der wahnhafte Hass auf Juden, das wusste er, wird nicht restlos beseitigt. Aber er kann und muss unter Kontrolle gebracht werden."