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Zwei Jahre Notunterkunft in der Markus-Kirchengemeinde Berlin-Steglitz

Von Pfarrerin Carolin Marie Göpfert.

Am 24. Februar 2024 jährt sich der Angriff Russlands auf die Ukraine zum zweiten Mal. Kurz nach Kriegsbeginn, mit Eintreffen vieler ukrainischer Flüchtender in Berlin, hat die Markus-Gemeinde entschieden, ihr Gemeindehaus zu räumen und als Notunterkunft zur Verfügung zu stellen.

Betten im Gemeindesaal, Lagerräume in der Jugendetage, Kleiderspenden im Erdgeschoss: Die evangelische Markusgemeinde in Berlin-Steglitz beherbergt seit zwei Jahren Flüchtlinge aus der Ukraine. Zwischen 40 und 50 Menschen leben dort derzeit.

Pfarrerin Carolin Marie Göpfert berichtet über Ihre Erfahrungen:

Als ich am 24. Februar 2022 aufwachte und noch im Liegen die Nachrichten checkte, spürte ich unmittelbar, was in mir in den kommenden Tagen immer präsenter werden sollte: Ungläubigkeit, dass so ein Krieg in unserer Zeit geschieht; Angst vor den Auswirkungen auf das Leben meiner Familie; Ratlosigkeit, was nun zu tun sei; Wut auf die zerstörerischen und von Hybris besessenen Menschen…

Ich ahnte, dass dieser Krieg mein Leben in den folgenden Tagen, Monaten, Jahren bestimmen würde; und gleichzeitig hoffte ich, dass er nur kurz andauern würde. Damals hielten manche es für möglich, es könne vielleicht nur ein paar Tage dauern.

Am Morgen des 24. Februar 2022 war Andrij Lut gerade in Moskau. Andrij war Ukrainer: in Donezk geboren, aufgewachsen, zur Schule gegangen, studiert, gearbeitet – und schwer erkrankt. In seiner Heimat konnte man ihm nicht mehr helfen. Darum setzte er seine Hoffnung auf die russischen Ärztinnen und Ärzte. Im Krankenhaus erfuhr er über Nachrichten von daheim über den Angriff Russlands auf sein Heimatland. Er war entsetzt. Später wird er sagen: In den Augen der Ärzte habe er gesehen, dass sie ihn schon begraben hätten. Er verließ Moskau, so schnell er konnte. Mit ihm seine Mutter Larissa. Über viele Irr- und Schleichwege kommt er schließlich nach Berlin. Ausgezehrt von der Flucht und ermattet von der Krankheit kommt er in unserem Gemeindehaus an.

Seit dem 13. März 2022 ist unser Gemeindehaus eine Notunterkunft für Schutzsuchende aus der Ukraine. Andrij und Larissa kommen bei uns unter, großartige Ehrenamtliche – unter ihnen Ärztinnen und Ärzte – kümmern sich um sie, Andrij wird in der Charité aufgenommen und bekommt die beste Behandlung, die hier möglich ist. Überhaupt habe ich in dieser erschütternden Zeit auch so viel erlebt, was mich hoffnungsvoll werden ließ: Der Mann etwa, selbst finanziell am Limit, der mir einen großen Schein für die Schutzsuchenden in die Hand drückt; ich weiß, ein Jahr zuvor wurde ihm zu Weihnachten Geld geschenkt. Neben ihm auch andere, die für unsere kleinsten Gäste Unmengen an Feuchttüchern und Windeln, flauschige Kuscheltiere, weiche Decken brachten; das war nicht nur materielle Hilfe, darin drückte sich auch zärtliche Anteilnahme aus.

Oder eine Frau aus dem Kiez, die mit einem Kofferraum voll ukrainischer Lebensmittel vorfuhr. Oder Konfirmandinnen und Konfirmanden mit ihren Eltern, die Unmengen an Bettwäsche übereinanderstapelten. Und so viele andere mehr. Die Apothekerin von nebenan brachte dringend nötige Medikamente. Eine Floristin spendete regelmäßig Blumen, damit es schön aussieht im Gemeindehaus. Die Friseurin um die Ecke bot an, den ukrainischen Gästen kostenlos die Haare zu schneiden; sie wisse, wie wichtig das für Frauen in schwerer Lage sei. Der Optiker versorgte die Schutzsuchenden mit wertigen Brillengestellen. Das Team eines Unternehmens fuhr wöchentlich auf Firmenrechnung zum Einkauf, um die Menschen hier zu versorgen.

Diese Menschen setzten sich sehr bewusst und entschieden für die ein, an deren Schicksal sie Anteil nahmen. Solche Menschen geben mir Hoffnung, nun schon über zwei Jahre. Und ich weiß: So wie bei uns war es an vielen Orten in Berlin und in ganz Deutschland. Und das Miteinander von Zivilgesellschaft, Behörden und Institutionen war beeindruckend.

Durch solche Menschen fand Andrij freundliche, mitfühlende Aufnahme. Er sagte damals, es gehe ihm gut. Aber er selbst spürte: Er wird sterben. Er kämpfte mit Ängsten und Dämonen. Andrijs Leidenschaft war das Zeichnen. Im Krankenhaus zeichnete er. Wenige Tage vor seinem Tod – schreiben konnte er nicht mehr – zeichnete er eine Leber – heil und unversehrt. Darüber notierte er: „Plan meines Lebens: Ich will für meine Eltern sorgen und meine Großmutter. Ich möchte eine Frau und zwei Kinder. Ich möchte fischen, malen, reisen und gut verdienen.” Andrij Lut starb am 16. April 2023, dem orthodoxen Osterfest. Er wird 32 Jahre, 7 Monate und 28 Tage alt. Seine letzten Worte auf Erden waren: „Mama, es ist alles gut.”

Bei seiner Trauerfeier in der Markus-Kirche saß ich in der letzten Reihe. Meine Tränen rannen die Wangen herab. Ich merkte, wie erschöpft ich war. Und die Trauer über Andrij und um all die individuellen Schicksale, die ich begleitet hatte, bahnte sich ihren Weg. Ich sah Larissa, seine Mutter, und dachte an all die Mütter, die in diesem Krieg ihre Kinder verloren haben. Ich sah Maria, eine junge Frau, die ihn ins Krankenhaus begleitet hatte, beim Übersetzen half und der Familie beistand, und dachte an all diejenigen, die geholfen haben, ohne vorher zu wissen, worauf sie sich einlassen würden. Ich sah Evgeni – vormals bei einer ukrainischen Spezialeinheit, nun wegen Krankheit ausgemustert, dabei gerade Anfang 30 –, wie er mit seiner Videokamera die Trauerfeier aufnahm – für die Familie in der Ukraine. Ich wusste, er denkt auch an seine Freunde, die kämpfen; viele hat er schon verloren. Und ich sah viele Menschen aus dem Kiez, die hier geholfen haben; und ich vermutete, sie waren so erschöpft wie ich.

Nun ist wieder 24. Februar. Der große Angriffskrieg dauert nun schon 730 Tage. Aber unsere ukrainischen Gäste erinnern uns daran, dass schon viel länger Krieg war im Osten ihres Landes. In ihren Gesichtern hier in Berlin sehen wir Ungewissheit und Verzweiflung. Und ich frage mich: Wie muss es erst all den Menschen in der Ukraine gehen, die schon so lange im Ausnahmezustand leben?

Die Notunterkunft in der Markus-Gemeinde ist inzwischen 714 Tage alt. Und seit 642 Tagen beten wir jeden Samstag um Frieden. Immer mit den gleichen Worten, immer mit demselben Ablauf.

Wir entzünden Kerzen für die, die uns am Herzen liegen. Und wir üben uns zeichenhaft im Frieden-Machen, "Friedensgruß" heißt das in der liturgischen Sprache der Kirche. Das ist oft ein inniger Moment: Viele umarmen sich herzlich und wünschen einander Frieden. Eine Unterbrechung im Ausnahmezustand.

Nie hätten wir damals vor zwei Jahren gedacht, dass noch immer Schutzsuchende bei uns im Gemeindehaus Zuflucht finden. Andrijs Mutter ist nach der Trauerfeier zurückgefahren in die Ukraine. Sie wollte die Asche ihres Sohnes in der Heimat beisetzen. Beim Abschied sagte sie: "Ich weiß nicht, wie lange ihr noch Menschen aufnehmen könnt und wie stark eure Kräfte sind. Aber einen Wunsch habe ich: Bittet, betet immer weiter für den Frieden!"