Innere Freiheit fördern: Seelsorgearbeit in Gefängnissen
19.05.2025
Interview mit Gefängnisseelsorger Pfarrer Martin Johannes Wolf

Vom 12. Mai bis zum 16. Mai 2025 fand die 76. Jahrestagung der Evangelischen Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland e.V. statt. Unter dem Motto „Bunter Vogel Freiheit“ beschäftigte sich die Konferenz mit dem vielschichtigen Begriff der Freiheit – sowohl im gesellschaftlichen Kontext als auch im Inneren der Menschen, die in Haft leben.
Pfarrer Martin Johannes Wolf, Gefängnisseelsorger der EKBO berichtet von seinen Erfahrungen mit Inhaftierten, den Herausforderungen und Chancen der Seelsorge im Gefängnis, sowie den inspirierenden Begegnungen, die ihn in seiner Arbeit bestärken. Dabei wird deutlich, wie wichtig es ist, die innere Freiheit jedes Einzelnen zu fördern und neue Wege zu finden, um Menschen in ihrer persönlichen Entwicklung zu unterstützen.
Im Interview mit Manuela Schneider, Socialmediabeauftragte der EKBO gewährt Pfarrer Martin Johannes Wolf Einblicke in seine Arbeit und die diesjährige Jahrestagung der Evangelischen Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland.
Was bedeutet für dich persönlich der Titel der diesjährigen Bundeskonferenz „Bunter Vogel Freiheit“ im Kontext deiner Arbeit als Gefängnisseelsorger?
Pfarrer Martin Johannes Wolf: Ich begegne jeden Tag aufs Neue den unterschiedlichsten Inhaftierten und Bediensteten – da prallen manchmal Welten aufeinander. Die Menschen sind so bunt und vielfältig, und so bunt wie der Vogel „Freiheit“ muss auch meine Arbeit mit den Inhaftierten sein. Eine Freiheit, die sie durch ihre Inhaftierung verloren haben, ist so individuell wie sie selbst – und ebenso unterschiedlich sind auch die Anforderungen an mich. Im Titel steckt für mich aber auch ein leichter Widerspruch: Für die Inhaftierten ist die Freiheit nicht immer so leicht mit einem Vogel zu vergleichen. Ungebunden und ohne Grenzen durch die Luft zu schweben, ist ihnen zumindest in der Haftzeit verwehrt – auch wenn sich im Hebräischen die Wörter für „Freiheit“ und „Vogel“ gleichen.
Inwiefern spiegeln die Vorträge und Workshops der BuKo2025 aktuelle Herausforderungen und Entwicklungen in der Gefängnisseelsorge wider – insbesondere im Hinblick auf das Spannungsfeld zwischen Sicherheit und individueller Freiheit?
Pfarrer Martin Johannes Wolf: In vielen Vorträgen und Workshops war immer wieder Thema, dass Freiheit ein individuelles Konstrukt ist, das bestimmten Regeln folgt und für jeden etwas anderes bedeutet. Wenn ich als Deutscher von Freiheit spreche, habe ich andere Regeln und Werte im Kopf als ein Mensch aus Litauen. Warum also ist der Freiheitsentzug als Strafe so genormt? Warum gibt es die Ersatzfreiheitsstrafe? Warum wird Menschen die Bewegungsfreiheit durch eine Zelle genommen, nur weil sie kein Geld haben?
Die pauschalisierte Strafe des Freiheitsentzugs entspricht eben überhaupt nicht den individuellen Freiheitskonstrukten der Inhaftierten.
Gab es während der Konferenz besondere Impulse oder Begegnungen, die dich in deiner seelsorgerischen Tätigkeit nachhaltig inspiriert oder dir neue Perspektiven eröffnet haben?
Pfarrer Martin Johannes Wolf: Wir haben Erzählungen ehemaliger Stasi-Inhaftierter gehört, die von ihrer Zeit in Haft berichtet haben. Sie erzählten, dass sie Bibelstellen auswendig gelernt und zitiert haben oder im Innenhof statt der üblichen Runden Achten gelaufen sind. Sie haben sich Dinge einfallen lassen, um sich die Zeit zu vertreiben. Heute sehe ich Inhaftierte vor dem Fernseher sitzen. Wenn ich eine Bibel ausgebe, denke ich darüber nach, was ich dem Inhaftierten theologisch mitgeben kann. Manchmal reicht aber vielleicht auch einfach ein Buch – das Buch der Bücher – mit zahllosen Geschichten. Einfach nur zum Lesen.
Wie erlebst du die Bedeutung von innerer Freiheit bei den Inhaftierten, und welche Rolle spielt die Seelsorge dabei, diesen inneren Raum zu fördern und zu schützen?
Pfarrer Martin Johannes Wolf: Innere Freiheit ist für die meisten meiner Inhaftierten ein schwieriges Thema. Sie fühlen sich in erster Linie eingesperrt und sind sich einer inneren Freiheit nicht bewusst. Die erste bewusst wahrgenommene Freiheit ist oft die Möglichkeit, überhaupt mit der Seelsorge in Kontakt treten zu können, offen sprechen zu dürfen. Uns kann alles anvertraut werden – bei uns in der Seelsorge können Gedanken frei werden, frei geäußert werden, ohne dass sie nach außen dringen. Ich lasse Äußerungen frei zu, beziehe aber auch Stellung und erinnere an christliche Werte. Dass dies über das Seelsorgebüro hinausgeht – dass ihre Gedanken, ihre Wünsche, ihr Wissen, ihre Erinnerungen und ihr Glaube bei ihnen frei sind –, versuche ich durch Gottesdienste, Projekte, Singen und Gespräche greifbar zu machen.
Welche konkreten Anregungen oder Vorhaben nimmst du aus der BuKo2025 mit zurück nach Berlin, um deine Arbeit in der Gefängnisseelsorge weiterzuentwickeln oder neue Projekte zu initiieren?
Pfarrer Martin Johannes Wolf: Tatsächlich nehme ich eine eher organisatorische Anregung mit in den Alltag: Die Möglichkeit, durch zeitlich begrenzte Workshops viele unterschiedliche Themen und Sichtweisen kennenzulernen, hat mich inspiriert, auch in der JVA mehr Angebote im Workshop-Charakter zu organisieren. Oft plant man Arbeitsgruppen oder langfristige Projekte, die durch Bürokratie oder Struktur nie zustande kommen. Angebote als Workshop können von mir und meinen Kolleg:innen, aber auch von Externen umgesetzt werden – um die Vielfalt so groß wie möglich zu halten. Warum nicht in einer Woche häkeln und in der nächsten Woche über die Biografie einer Person nachdenken? Ein vielfältiges Angebot für die Inhaftierten könnte der individuellen, inneren Freiheit besser gerecht werden.
(Das Interview führte Manuela Schneider, Socialmediabeauftragte der EKBO)