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Zum 90. Geburtstag von Dorothee Sölle

Der Liedermacher Konstantin Wecker schreibt, wie ihn die Theologin und Schriftstellerin Dorothee Sölle geprägt und beeinflusst hat.

Dorothee Sölle (links) und Adriane van Melle-Hermans 1981 bei einer internationalen Frauenkonferenz in den Niederlanden. Foto: Wikimedia
Dorothee Sölle (links) und Adriane van Melle-Hermans 1981 bei einer internationalen Frauenkonferenz in den Niederlanden. Foto: Wikimedia

Dieser Text ist ein Originalbeitrag für die Wochenzeitung die kirche

Von Konstantin Wecker

Zu den Büchern, die mich seit der ersten Lektüre gepackt und seitdem nicht mehr losgelassen haben, gehört mit Sicherheit „Mystik und Widerstand“ (1997) von Dorothee Sölle (1929–2003). Es gehört zu jenen Werken, bei denen ich das Gefühl habe, hier schreibt mir jemand aus der Seele, ja, fast als würde diese Autorin mich persönlich kennen. Immer schon habe ich diese streitbare und friedensbewegte Theologin bewundert.

Das, was ich seit über 20 Jahren mit meinem Liedern, Büchern und Artikeln zu erreichen versuche, eine Annäherung sich politisch engagierender Menschen an spirituell Suchende und umgekehrt, ist mit diesem Buch Zeile für Zeile besser begründet, als ich es je könnte. „Mystik ist die Erfahrung der Einheit und der Ganzheit des Lebens. Und mystische Lebenswahrnehmung, mystische Schau ist dann auch die unerbitt­liche Wahrnehmung der Zersplitterung des Lebens. Leiden an der ­Zersplitterung und sie unerträglich finden, das gehört zur Mystik“, schreibt Sölle.

All die wichtigen Erfahrungen kleiner Kinder, das Erleben des Staunens, der kleinen Wunder, nicht rational erklärbare Wahrnehmungen, unsichtbarer Freunde und so vieles mehr aus den rein geistigen Bereichen, werden den Menschen in unserer Kultur mit einer schnell überwundenen Kindheit gründlich ausgetrieben. „Wir erklären sie dann zu Spinnereien, wir privatisieren und banalisieren sie mit den beliebten Nichts-als-Formeln. (…) Einbildung, schlechte Verdauung, Überreizung müssen herhalten.“ Wir treiben sie unseren Kindern aus und zerstören sie zugleich in uns selber.

Die Erfahrung des unbekannten Lebens zurückholen

Vielleicht ist die Trivialisierung des Lebens die stärkste mystische Macht in uns. Es wird dir nicht verboten zu spinnen oder zu träumen. Du kannst alles denken, fühlen, erfahren und mitzuteilen versuchen. Aber: „Sobald es ans Licht tritt, wird es entwichtigt, sinnlos gemacht, abgetan, weil es sich in Bezug auf die bei uns herrschende Währung nicht konvertieren lässt. Es bringt nichts, es lässt sich nicht verwerten, es ist ohne Entgelt.“ Was wirklich zählt, ist nicht in Euro und Cent abzählbar. Ja, auch unser Verhältnis zum Gött­lichen lässt sich nicht in Kategorien von Leistung und Gegenleistung pressen. „Mystik ist kein Deal“, schreibt Sölle mit der ihre eigenen rhetorischen Schärfe.

„Mein Ziel ist es, die Erfahrung des unbekannten Lebens ,zurückzuholen‘ als etwas, das uns gestohlen wurde, noch ehe wir geboren waren. Ich will mich dem schicksalhaften Zwang der Moderne nicht absolut unterwerfen und entsprechend nicht die Wissenschaft zu dem totalitären Gott machen, neben dem wir keine anderen Götter haben sollen“, schreibt Dorothee Sölle. Diesen schicksalhaften Zwang der Moderne nannte Max Weber die „Entzauberung der Welt“ und genau dieser Entzauberung will auch ich mich nicht beugen.

Mystik kann Widerstand sein

Dass man ein mystischer, also ein dem Wunderbaren und Ewigen hingegebener Mensch sein kann und gleichzeitig ein politisch wacher Mensch, der sich dem Unrecht in jeglicher Form widersetzt, das wird vielfach zugestanden. Beide Bereiche gelten aber eher als getrennt. Jemand geht tagsüber auf eine Demonstration gegen Fremdenfeindlichkeit und meditiert dann abends im stillen Kämmerlein. Dass aber Mystik selbst Widerstand sein kann, ist ein für die allgemeine Wahrnehmung noch eher fremder Gedanke.

Um dies zu verstehen, muss man seinen Begriff von „Widerstand“ weiten, wie es Dorothee Sölle getan hat: „Der Begriff von Widerstand, der an vielen Stellen mystischer Tradition aufleuchtet, ist weit und vielfältig. Er beginnt mit dem Nicht-Zuhausesein in ‚dieser Welt‘ der Geschäfte und der Gewalt. Die Nicht-Übereinstimmung, der Dissens, führt zu einfachen Formen des nicht-konformen Verhaltens.“

Der Widerstand zeigt sich nicht zuerst darin, was man kämpferisch auf die Straße trägt, sondern darin, wer man ist – wer man geblieben ist trotz eines Systems von Wahn und Zwang, das einen beständig zum Selbstverrat nötigen will. Gegen den allgegenwärtigen Händler-Geist, die Dominanz des Zweck- und Effizienzdenkens ist die Liebe zum Schönen selbst schon eine Widerstandshandlung. In einer wunderbaren Formulierung schreibt Dorothee Sölle: „Das Schöne zieht uns zu Gott, bringt uns in einen Zustand, der mit Kaufen und Verkaufen nichts zu tun hat, aber mit Staunen und Stillwerden, mit Sich-Wundern und vielleicht Summen, mit Sich-Vergessen und mit Glück.“

Freilich ist eine gerechtere Welt wünschenswert – und sie wird von den Profiteuren des Unrechts nicht ohne unseren beharrlichen Einsatz zu erringen sein. Aber der Erfolg darf nicht zum rigiden „Warum“ absolut jeder menschlichen Tätigkeit werden. Der Sieg im Klassenkampf könnte von genussunfähigen Siegern nicht mehr genossen werden. Ohne Freiheit, Schönheit und Spiel gibt es kein lebenswertes Leben — selbst in einer noch so gut konstruierten Gesellschaftsordnung.

Das Paradoxe ist: Wer den Erfolg anbetet, selbst den im Kampf gegen den allgegenwärtigen Ökonomismus, hat sich den Denkmustern seiner Gegner bereits unterworfen. Dorothee Sölle schreibt hierzu: „Aber das letzte Kriterium der Beteiligung an widerständigem, an solidarischem Verhalten kann nicht der Erfolg sein, das hieße, immer noch nach der Melodie der Herren dieser Welt zu tanzen.“ Politischer Erfolg, der den nach Umsturz Strebenden über­mäßig dem angleicht, was gestürzt werden muss, ist nichtig. Was wäre denn unser Erfolg wert, wenn es nicht mehr wir selbst wären, die ihn erringen? „Es geht ums Tun und nicht ums Siegen“ — so habe ich das in meinem Lied über die „Weiße Rose“ genannt. Also lasst uns weiterhin unsere eigenen Melodien singen, und pfeifen wir auf die Herren dieser Welt. Das wunderbare Werk von ­Dorothee Sölle gibt uns hierzu das nötige Rüstzeug in die Hände.

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Die Theologin Dorothee Sölle wurde am 30. September 1929 in Köln geboren und starb am 27. April 2003 in Göppingen (Baden-Württemberg). Sie war eine deutsche Schriftstellerin, Pazifistin und globale Friedensaktivistin. 1968 gründete sie in Köln das ökumenische „Politische Nachtgebet“, dem es um die Verbindung zwischen aktuellen Themen wie Vietnamkrieg, Obdachlosigkeit, Dritte Welt mit Meditation, Diskussion und gemeinsamen Aktionen ging. Die Sprachwissenschaftlerin hatte ein besonderes Augenmerk für feministische und politische Theologie, die Theologie der Befreiung und für Mystik.

Im Wichern Verlag ist soeben das Buch "Dorothee Sölle – Poesie als Gebet. Eine Biografie in Gedichten" erschienen. Hier geht es zur Buchbeschreibung und -bestellung.

Veranstaltungen rund um den 90. Geburtstag von Dorothee Sölle finden Sie hier.