Zur Hauptnavigation springen Zur Suche springen Zum Inhalt springen
InstagramRSSPrint

NS-Zwangsarbeiterlager

Umfangreiche Mauerreste des kirchlichen "Friedhofslagers" erstmals freigelegt

 Berlin, 14. August 2014, (epd)

 

Eine zerbrochene Gabel mit den eingeritzten Initialen S.P., drei verrostete Münzen mit Reichsadler und Hakenkreuz, eine zerschlissene Schuhsohle aus Autoreifen mit kyrillischen Buchstaben: Solche Fundstücke haben Archäologen in der vergangenen Woche auf dem evangelischen Jerusalem-Friedhof in Berlin-Neukölln bei Grabungen zutage gefördert. Sie gehörten einst NS-Zwangsarbeitern, die in dem deutschlandweit bislang einzigen bekannten kirchlichen Zwangsarbeiterlager interniert waren.

 

Das deutschlandweit einzige kirchliche NS-Zwangsarbeiterlager in Berlin soll zum Mahnmal werden. Damit will die Kirche offen zu ihrer Schuld stehen. Die nun freigelegten umfangreichen Lagerreste überraschen unterdessen auch Experten.

 

Das sogenannte "Friedhofslager" war von 1942 bis 1945 gemeinsam von 42 Berliner Kirchengemeinden, darunter drei katholischen Gemeinden, und dem evangelischen Berliner Stadtsynodalverband betrieben worden. Bis zu 100 jugendliche Insassen im Alter zwischen 15 und 17 Jahren, die meisten aus dem Gebiet der heutigen Ukraine, waren hier untergebracht. Sie mussten unter teils schwersten körperlichen Anstrengungen Friedhofsarbeiten im gesamten Berliner Stadtgebiet verrichten.

 

Von den nun freigelegten Fundamentresten des Lagers zeigten sich selbst Experten überrascht. Das gesamte Areal hat eine Fläche von rund 4.000 Quadratmetern. In einem Workcamp haben Jugendliche, Kirchenmitarbeiter und Archäologen gemeinsam die Fundamente des früheren Küchentrakts, des Kohleschuppens, der 50 Meter langen und acht Meter breiten Wohnbaracke sowie die Mauern des Kartoffelkellers ausgegraben. "Es ist eines der am besten erhaltenen Zwangsarbeiterlager in ganz Berlin", sagte der Grabungsleiter und Archäologe Torsten Dressler am Donnerstag.

 

Die evangelische Generalsuperintendentin Ulrike Trautwein kündigte an, dass auf dem Areal eine Gedenkstätte für die NS-Zwangsarbeiter entstehen soll. "Die Kirche steht zu ihrer Schuld", sagte Trautwein. Eine Kostenkalkulation und Entwürfe für das Mahnmal sollen Anfang 2015 von der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) und der Fachhochschule Potsdam vorgestellt werden. "Die freigelegten Lagerreste sollen dabei möglichst umfassend in den künftigen Erinnerungsort integriert werden", sagte Trautwein.

 

Gehofft wird, dass sich auch das Land Berlin daran beteiligt. In der Stadt gab es während der NS-Zeit mehr als 3.000 Zwangsarbeiterlager. "Nur eins davon wurde von der Kirche betrieben", betonte Dressler. Und auch dass es so gut erhalten geblieben ist, sei "schon etwas besonders".

 

Jahrzehntelang war das "Friedhofslager" in Vergessenheit geraten. Es lag verschüttet unter Gebäuderesten und zentimeterdicken Müllschichten begraben. Hinweise darauf gab es erstmals 1995. Im Zuge von Recherchen für den NS-Entschädigungsfonds konnte das evangelische Landeskirchliche Archiv dann im Jahr 2000 umfangreiche Dokumente zusammenstellen, die die Existenz des Lagers belegten. Erste Grabungen fanden im September 2013 statt.

 

Im August 2014 wurden nun fast alle Gebäudereste freigelegt. "Nur der frühere Splittergraben, in dem die Zwangsarbeiter bei den fast täglich stattfindenden Bombardierungen Zuflucht fanden, wurde aus Pietätsgründen nicht freigelegt", sagte Dressler. Denn an dieser Stelle werden Gräber aus späteren Zeiten vermutet.

 

Historiker gehen inzwischen davon aus, dass das Lager einst möglicherweise sogar vergrößert werden sollte. "Es war konzipiert für bis zu 150 Menschen", sagte der Leiter des Landeskirchlichen Archivs, Wolfgang Krogel. Die Insassen seien zu ihren Arbeitsorten auf verschiedenen Berliner Friedhöfen mit der S- und U-Bahn gefahren. Dabei mussten sie einen blauen "Ost"-Aufnäher tragen, der sie als Zwangsarbeiter stigmatisierte.

 

Ein Großteil von ihnen überlebte die Strapazen der Zwangsarbeit. Nach der Rückkehr in ihre Heimat gerieten viele von ihnen jedoch wieder in Lagerhaft. "Es wurde ihnen unterstellt, mit den Nazis kollaboriert zu haben", sagte Krogel. Die EKBO hat seit 2000 Kontakt zu den Überlebenden aufgenommen. So wurde ein heute 86-Jähriger bis vor kurzem noch regelmäßig mit Medikamenten-Spenden unterstützt. Der Mann lebt jedoch in der Nähe der ukrainischen Stadt Lugansk. Seit Ausbruch des aktuellen Bürgerkriegs in der Ukraine hat man nichts mehr von ihm gehört.

 

Von Christine Xuan Müller