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"In zwei Welten gelebt" - Ostdeutsche erzählen ihre Geschichte auf Youtube

Kurz vor dem 30. Jahrestag der deutschen Einheit werden private Geschichten aus Ostdeutschland auch im Internet erzählt. Das vom Ostbeauftragten der Bundesregierung geförderte Projekt will so zum Grundstock für ein großes digitales Archiv werden.

Ein Wendekind, das mit Ostrock groß wurde. Ein Kirchenmusiker, der in der DDR nicht Direktor werden durfte, ab 1990 aber als Politiker Karriere machte. Ein Mosambikaner, der als Vertragsarbeiter in den Osten kam und durch die Kirchengemeinde eine neue Heimat fand: Facettenreiche Biografien aus Ostdeutschland sind seit kurzem auf Youtube unter dem Titel "Deine Geschichte - Unsere Zukunft" zu sehen. Ins Leben gerufen wurde das Projekt von dem Berliner Verlag Rohnstock-Biografien.

Die Corona-Krise hat mit dafür gesorgt, dass nun 145 private Erzählungen aus Ostdeutschland auf dem Videoportal abrufbar sind. Der Verlag von Katrin Rohnstock bietet seit vielen Jahren sogenannte Erzählsalons an, in denen Privatleute im kleinen Kreis ihre persönlichen Erfahrungen und Geschichten zu einem bestimmten Thema austauschen. Zum 30. Jahrestag der deutschen Einheit mussten die Gespräche coronabedingt via Livestream stattfinden - mit dem Vorteil, dass das Video-Material nun dauerhaft verfügbar ist, wie die Verlagschefin erzählt.

Insgesamt 20 digitale Erzählsalons kamen so in den vergangenen Wochen zustande. Die Gesprächsrunden hatten entweder einen regionalen Bezug etwa zum Thüringer Wald, der brandenburgischen Lausitz, dem Burgenlandkreis, dem Landkreis Nordwestmecklenburg, dem Saale-Holzland-Kreis. Oder sie fanden zu ausgewählten Themen wie Altenpflege, Familie, Frauen, Migration und Demokratie statt.

Bei vielen Erzählerinnen und Erzählern sei die persönliche Geschichte auch mit einem kirchlichen Hintergrund verknüpft, sagt Rohnstock. Die Kirche im Osten habe aber nicht nur für Kirchenmitglieder eine Rolle gespielt. Sie selbst habe als junge Frau in der DDR die Erfahrung gemacht, dass die Diskussionskultur in den Kirchengemeinden häufig auch darüber hinaus ausgestrahlt habe - bis in die Betriebe hinein. Zwar sei diese Avantgarderolle im Osten mittlerweile verloren gegangen. Prägend sei die Kirche für viele Ostdeutsche dennoch gewesen, wie bei dem Projekt zum Einheitsjubiläum erneut deutlich werde. Ein Dutzend private Erfahrungsberichte dazu wurden nun ausgekoppelt und sind als spezieller Youtube-Stream verfügbar.

Darin erzählt zum Beispiel Annette Berger aus Wittenberg, Jahrgang 1968, von ihrer DDR-Kindheit. In ihrem kirchlichen Haushalt erlebte sie zuhause eine offene Diskussionskultur: "Nichtsdestotrotz hat man in der DDR sich oft so gefühlt, als ob man eine gespaltene Persönlichkeit hat oder zumindest in zwei Welten lebt", sagt die heutige Studienleiterin der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt.

Die Eltern diskutierten mit ihren Kindern über Politik, und natürlich wurden auch die eigentlich verbotenen Nachrichten im Westfernsehen geschaut: "Wir mussten damit leben lernen, dass wir verschiedene Versionen einer Geschichte erzählt bekamen, und letztlich damit klarkommen", erinnert sich Berger, die sich dann in der DDR unter anderem in der Migrationsarbeit engagierte, auch im 1988 in Ost-Berlin gegründeten Begegnungscafé "Cabana".

Der Kirchenmusiker Michael Hentschel aus Magdeburg schildert, wie er zwar in der DDR keine Karriere machen konnte, weil er sein Engagement in der Kirche nicht aufgeben wollte. Er arbeitete zur Wendezeit dann als Kabarettist und genoss damit, wie er sagt, eine gewisse "Narrenfreiheit" Dinge auszudrücken, "über die man laut lachen durfte". Später organisierte er mit der Domgemeinde Demonstrationen und arbeitete ab 1990 als Kommunalpolitiker.

Auffällig sei in den Erzählsalons, dass viele Ostdeutsche mit Kirchenbezug, damals wie heute, sich häufig politisch engagierten, und "versuchen, viel in die Gesellschaft einzubringen und sie mitzugestalten", sagt die Publizistin Rohnstock. Ohnehin habe es die größte Resonanz auf den Erzählsalon zum Thema Demokratie gegeben: "Hier hatten sich doppelt so viele Erzähler angemeldet wie bei den anderen Themen." Rohnstock interpretiert das Interesse so, dass es bei vielen Ostdeutschen eigentlich "ein großes Bedürfnis gibt mitzudenken und mitzugestalten". Dies werde von Politik oder Medien jedoch bislang nicht ausreichend erkannt.

Zudem sieht sie im Osten ein großes "Erzähl-Defizit". Viele Geschichten hätten immer noch keinen Raum gefunden. Deshalb arbeiten Rohnstock und ihr Team an einer zweiten Staffel, bei der persönliche Geschichten rund um die Umbruchszeit vor 30 Jahren und deren Folgen zugänglich gemacht werden sollen. Ihre Hoffnung sei, dass so auch ein "riesiges digitales Archiv" mit Zeitzeugenerzählungen aus unterschiedlichsten Perspektiven entsteht, sagt sie. Nutzen sollen daraus auch Soziologen, Historiker und andere Interessierte ziehen.

(epd) 

www.rohnstock-biografien.de 
Erzählungen sind abrufbar unter www.deine-geschichte-unsere-zukunft.de 
Zusammenschnitt mit "Geschichten aus Ostdeutschland mit kirchlichem Bezug": http://u.epd.de/1mv6