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Der Himmel über Berlin: Zum Tod von Bruno Ganz

Jeden Montag hält eine Pfarrerin oder ein Pfarrer des Konsistoriums der EKBO eine Andacht für die Mitarbeiter, gemeinsam beginnt man die neue Woche. An diesem Montag hat Barbara Manterfeld-Wormit (Rundfunk- und Fernsehbeauftragte der EKBO) über den Tod des großen Schweizer Schauspielers Bruno Ganz gesprochen – und den Himmel über Berlin...

Bruno Ganz. Foto: Javier Moreno / Flickr

Liebe Hausgemeinde,

der Beter des 31. Psalms scheint ein zutiefst misstrauischer Mensch gewesen zu sein. Aus gutem Grund vermutlich. Er erwartet von seinem Nächsten vor allem nichts Gutes. Die entgegengesetzte Einstellung klingt aus diesem Text. Es ist der Beginn eines großartigen Films. Er schildert einen Menschen der nichts kennt als Vertrauen:

„Als das Kind Kind war, ging es mit hängenden Armen,

wollte der Bach sei ein Fluß,

der Fluß sei ein Strom,

und diese Pfütze das Meer.

Als das Kind Kind war, wußte es nicht, daß es Kind war.

Alles war ihm beseelt und alle Seelen war eins.

Als das Kind Kind war, hatte es von nichts eine Meinung,

hatte keine Gewohnheit,

saß oft im Schneidersitz,

lief aus dem Stand,

hatte einen Wirbel im Haar

und machte kein Gesicht beim Fotografieren…“

(aus: Der Himmel über Berlin. 1987. Film von Wim Wenders. Drehbuchtext Peter Handke)

So klingt es, wenn ein Engel Mensch wird. Der Engel heißt Daniel. Einer der Erzengel der Bibel. Er fliegt nicht. Er beobachtet. Und philosophiert. Und ist an diesem Wochenende wieder zum Engel geworden. Ein Mensch namens Bruno Ganz. Kein Engel, sondern ein wunderbarer Schauspieler. In der Nacht zum Sonnabend ist er gestorben. Passend zum Abschluss der Berlinale. „Jetzt ist er wirklich im Himmel über Berlin!“ – würdigte ihn Dieter Kosslick, Noch-Chef der Berlinale.

Über ihn und diesen Film, der ihn berühmt gemacht hat, möchte ich erzählen heute – und bitte um Nachsicht, dass darum nicht der Predigttext vom gestrigen Sonntag Thema sein wird. Für mich hat dieser Film eine große Rolle gespielt, als er damals in die Kinos kam. Damals – das war 1987, als die Mauer noch stand – und das Konsistorium West in der Bachstraße. Und mein Name dort noch nicht auf der Liste der Theologiestudierenden vermerkt war. Als der Potsdamer Platz noch eine trostlose Brache war. Als ich mein Abitur machte – und noch unentschieden war – eine Suchende – wie geht es nun weiter? Drei Ideen – alles vage. Da lief dieser Film – und es war für mich tatsächlich so eine Art Fingerzeig: Otto Sander da oben lässig sitzend auf der Goldelse. Curt Bois, der Schauspieler, der 80 Jahre (!) als Schauspieler in Filmen und Theater wirkte, in seiner großartigen Altersrolle, wie er verwirrt und dabei doch so klar über den Potsdamer Platz der 80er wandert – fast 90 – und sich erinnert an seine Jugend, als dort noch die Cafés standen und kein Krieg war. Ein späterer Kommilitone, der in der Staatsbibliothek den Anfang der Genesis liest – und Otto Sander schreitet durch den offenen Raum und hört die Stimmen – hört das Wissen, die Kultur der Jahrtausende: bereshit barah elohim – am Anfang schuf Gott Himmel und Erde… Und eben Bruno Ganz:

Im grauen Berlin im dunklen Mantel steht er auf dem Turm der Ruine der Gedächtniskirche mit diesen schemenhaften Flügeln und hängendem Kopf. Wie das Kind mit Wirbel im Haar. Kaum sichtbar – nur für Kinder eben, die den Engel erkennen, während alle anderen vorbeigehen. Es war nicht der Moment der Entscheidung, mehr ein Wind, der plötzlich aufkam und mich in die richtige Richtung wehte, sacht und unbemerkt. Und es waren die Drehbuchtexte, Poesie – wie die der Bibel:

Als das Kind Kind war, wußte es nicht, daß es Kind war. Alles war ihm beseelt und alle Seelen war eins. Als das Kind Kind war, hatte es von nichts eine Meinung, hatte keine Gewohnheit, saß oft im Schneidersitz, lief aus dem Stand, hatte einen Wirbel im Haar…“

„Als ich ein Kind war, redete und dachte ich wie ein Kind und war klug wie ein Kind. Als ich erwachsen wurde, ließ ich zurück, was kindlich war. Wir sehen vorläufig nur ein rätselhaftes Spiegelbild, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Heute erkenne ich bruchstückhaft, dann aber werde ich erkennen, wie ich von Gott erkannt worden bin.“ (1. Kor 13f. Bibel in gerechter Sprache)

Der Paulustext wird im Film nicht zitiert. Doch die Engel aus dem Himmel über Berlin tun genau das: Sie erkennen. Der Engel Daniel lauscht. Er sieht. Er beobachtet. Er nimmt wahr, was andere nicht sehen. Nicht hören. Er liest die Gedanken. Spürt die Zerrissenheit. Die Müdigkeit. Die Freude. Die Todesangst. Der Engel ist empathisch mit jeder Faser seines geistigen Körpers. Und bei allem sucht er die Nähe zu uns Menschen. Am Ende will Daniel einer von ihnen, einer von uns sein. Und freut sich, als er seine Flügel endlich los ist, stürzt, sich eine blutige Nase holt. Weil durch die eigene Verletzlichkeit plötzlich klar ist: Jetzt bist du ganz Mensch. Ganz Körper. Kannst alles spüren – kannst mitmachen. Wirst sichtbar. Kannst lieben, hoffen, verzweifeln. Leben eben. Und das tut Daniel dann auch. Er verliebt sich. In die Zirkusakrobatin. Zwei Schwebende, die einander finden, miteinander fliegen, schweben, fallen.

Wir gehen auf die Passionszeit zu. Sie bedeutet genau das: Ernst machen mit der Menschwerdung. Jesus macht sich verletzlich. Will nahe bei uns Menschen sein. Hält bei allem fest an dieser großen Liebe – auch im Leiden.

Viel von dieser himmlischen Existenz steckt auch in unserem Leben als Christen in dieser Stadt: Wir sind oft nicht wirklich sichtbar. Tragen keine Flügel – „nur“ die Botschaft. Viele gehen achtlos dran vorbei. Wir können nicht auftrumpfen mit spektakulären Aktionen und Wundern. Wir können oft nur da sein. Zuhören. Trösten. An den Ursprung erinnern. Und immer wieder von der Hoffnung erzählen.

Diese Erinnerung an den Ursprung ist es, die meinen Glauben trägt: Die Erinnerung daran, woher ich komme. Wer ich einmal war und wie ich war: von allem beseelt. Von nichts eine Meinung, keine Gewohnheit. Oft im Schneidersitz. Wirbel im Haar. Und ohne ein Gesicht zu machen beim Fotografieren…  

Wer so lebt, ist neugierig. Unvoreingenommen.  Absichtslos. Uneitel. Offen. Zugewandt. Was wäre, wenn wir so tatsächlich miteinander lebten? Den anderen so sehen und hören und verstehen könnten? Eine große, eine schöne Vision. Eine Verheißung:

Paulus schreibt: Dann aber werde ich erkennen, wie ich von Gott erkannt worden bin. Jetzt aber leben wir mit Vertrauen, Hoffnung und Liebe, diesen drei Geschenken. (1. Kor 13, 13) Eine Hoffnung dessen, was kommt, was wir sein werden – und schon jetzt – stückweise – sein können.

In einer Zeit, wo Meinungen gern unverrückbar sind, wo Vorurteile regieren. Wo optimiert und inszeniert wird, tut es gut, sich daran zu erinnern auf unserem Weg auf der Erde – zwischen Erfolg und Freude, Liebe und Enttäuschung, Genuss und blutiger Nase. Ein wenig schweben. Hören. Lauschen. Sich erinnern. Eins sein. Kind sein. Gottes Kind. Mit Wirbel im Haar und Blick für das Wesentliche. Bis wir im Himmel über Berlin oder wo auch immer angekommen sind. Doch jetzt noch nicht. Heute wollen wir schweben.

Amen.