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Dieter Puhl: Ein Leben für die Bahnhofsmission

In einem neuen Buch erzählt Dieter Puhl, Leiter der Berliner Bahnhofs­mission am Zoo, von seinem herausfordernden Arbeits­alltag an einem Brennpunkt in der Hauptstadt.

Von Dieter Puhl

Ehrlicherweise muss man sagen, dass ich mich gar nicht in die Bahnhofsmission gesehnt habe. Vorher war ich Bereichsleiter im Betreuten Wohnen. Ich wollte aber nicht mehr leiten, weil ich mich als zu wenig durchsetzungsfähig empfand. Dazwischen war ich sehr kurz in einer Einrichtung der Stadtmission tätig, die ich ziemlich langweilig fand.

Wir hatten damals einen Prokuristen, zu dem ich ein recht gutes Verhältnis hatte. Der sagte zu mir: "Herr Puhl, Sie fahren den ganzen Tag Essen aus und halten den Ellbogen zum Fenster heraus." Das war wohl wahr, und ich war tatsächlich unzufrieden. "Und mir geht die Bahnhofsmission Zoo den Bach hinunter. Das macht alles keinen Sinn."

Ich kannte die Bahnhofsmission und fand sie, wenn ich ab und zu als Streetworker da war, nicht so toll. Der Laden schien mir unbeweglich, unfreundlich, nicht kunden- und gästeorientiert. Nicht dicht bei den Menschen. Wenn ich hier morgens stand, hätte ich erwartet, dass mir als Kollege jemand einen Kaffee anbietet. War aber nicht. Die Bahnhofsmission Zoo, wusste ich, war wirtschaftlich am Ende. Zwei, drei Monate überlegte ich, ob ich hier anfangen solle.

Inzwischen glaube ich, dass Jesus hier schon lange eine Gemeinde gründen möchte. Das ist jetzt sprachlich gewagt und schwer zu beweisen, aber mein früherer Chef und ich haben das immer schon so gesehen. An diesem Punkt geht es gar nicht darum, dass wir die Stadtmission oder Bahnhofsmission oder schon gar nicht Dieter Puhl sind, sondern eigentlich werden wir ein wenig – glaube ich – gestupst, das machen zu müssen. Es ist eine logische Konsequenz aus dem, was hier sowieso schon passiert. Verschiedene tolle kleine, heilige rote Fäden, die hier rumschwirren, müssen miteinander verbunden werden. Wenn wir das Ganze noch so gestalten, dass auch Juden, Muslime, Atheisten, also alle Menschen, sich hier wohlfühlen und austauschen, dann wird das ein blühendes Miteinander. Das kriegt die Stadtmission hin, das kriegen wir als Bahnhofsmission hin. Und ganz ehrlich, darauf hatte und habe ich Lust.

Jetzt mach ich mal einen satirischen Schlenker zu meinem Leben. Ich habe vor 25 Jahren als überzeugter Atheist bei der Berliner Stadtmission angefangen, und seit 25 Jahren arbeite ich mit daran, hier eine Gemeinde zu verwirklichen. Das muss ich schon sagen – das Leben treibt hübsche Blüten, und das ist eine, mit der ich gut leben kann.

Sprechen wir von der Idee, die dahintersteht, von unserem Leitbild. Nicht Dieter Puhl hat hier ein Leitbild geschaffen und auch die Stadtmission nur bedingt. Die Geschäftsidee, die dahintersteckt, ist über 2000 Jahre alt. Das ist eine, über die ich auch gar nicht mehr so sehr nachdenke. Ich möchte da gar nicht zu viel mit dem Intellekt rangehen. Das hat mich eher von Jesus entfernt. Ich glaube, wenn du in einer Liebesbeziehung lebst, dann musst du nicht jeden Abend die Beziehung hinterfragen und intellektualisieren. Dann lebt man ein Stückchen miteinander, nimmt das hin. Das hat etwas mit Vertrauen zu tun; nur redet man manchmal mehr, manchmal weniger miteinander.

Das Vertrauen in das Wirken von Jesus ist hier vorhanden. Sehr unterschiedlich bei den Kollegen, und das ist auch gut so, dass ich hier auch muslimisch geprägte Kollegen habe, aber es ist da. Ich finde es ganz wichtig, dass dieses Vertrauen nicht erschlagend da ist, sondern einladend. Was wir in den letzten Jahren vermeintlich geschafft haben, das haben nur sehr bedingt wir geschafft. Da steckt Fleiß, da steckt viel Zeiteinsatz dahinter, von vielen.

Zu den jüngeren Menschen, die mich berühren, gehört zum Beispiel Sünje. Sie hat hier mit 18 Jahren angefangen zu arbeiten. Sünje widerspricht, wie viele andere, dem oberflächlichen Bild der Medien von komasaufenden Jugendlichen. Es wird vorgegeben, sie würden sich entziehen und nicht gestalten. Sünje steht für viele junge Menschen, die bei uns einen richtig guten Job machen. Zunächst hat sie drei Jahre mehrfach in der Woche ehrenamtlich hier gearbeitet und eine Ausbildung zur Fotografin gemacht. Inzwischen arbeitet sie festangestellt hier und will nun Sozialarbeit studieren.

Was ich nicht aushalten würde, wären brave, heilige Mädchen mit Gitarre, die den ganzen Tag "Ach Christus meine Zuversicht" singen. Da kriege ich Platzangst. Was ich mag, sind die jungen Menschen, die Samstagfrüh mit Rändern unter den Augen herkommen, weil sie die ganze Nacht Party gemacht, gelebt haben und dennoch pünktlich um sechs Uhr hier sind und ihren Dienst antreten.

Lutz war Manager bei Siemens, der hier anfing, weil er schwer erkrankt war. Er kannte mich nicht. Er hatte sich selbst gesagt: "Lieber Gott, wenn ich nicht sterbe, gehe ich fünfmal in die Bahnhofsmission und wasche ab." Er tauchte hier auf, als er noch Werksleiter bei Siemens war und somit in eine vollkommen neue Welt kam. Einmal sagte er, er kenne die gesamte Welt. Wenn er in Indien ein Geschäftstreffen hatte, dann sah er dort Menschen vor seinem Hotel sterben, und es habe ihn nicht berührt.

Warum Lutz hier hängenblieb, weiß ich nicht, aber er ist einer meiner besten Freunde geworden, ein Spitzenmanager, der mir schon manchmal andere Denkstrukturen vermittelt hat. Der mir auch manchmal Mut macht, indem er sagt: "In aller Bescheidenheit, versuch auch mal, ein bisschen größer zu denken. Bei einigen Punkten darfst du ruhig ein bisschen mutiger sein!"

Lutz hat seine Krankheit überlebt. Er ist jetzt 70, hilft, netzwerkt und steht noch immer hinter der Geschirrspülmaschine. Wenn Lutz an der Tür steht und jemand gibt eine Tüte mit Bekleidung ab, hat er eine geniale Art zu fragen, ob er demjenigen die Bahnhofsmission zeigen darf, und: "Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten?" Oder: "Kann ich Ihnen die Arbeit erklären?" Wir haben hier sehr viele Menschenfischer. Lutz gehört übrigens auch zu dem subversiven Treffen mit einigen anderen Managern, das einmal im Jahr stattfindet, bei dem wir es vielleicht schaffen, in der ersten Viertelstunde ein Projekt zu gründen. Danach essen wir in Ruhe Pizza und tauschen uns aus.

Wenn ich richtig informiert bin, haben wir heute 105 Bahnhofsmissionen in Deutschland. Drei in Berlin: Ostbahnhof, Hauptbahnhof, Zoo. Es gibt nur sehr wenige Bahnhofsmissionen, ich glaube, vier, fünf, die überhaupt 24 Stunden geöffnet haben. Bahnhofsmissionen dürfen ein sehr eigenes Profil haben, sie werden durch eine ökumenische Bundesgeschäftsstelle in Berlin koordiniert. 50 Prozent sind in katholischer Trägerschaft. Das ist oft Caritas. 50 Prozent sind in protestantischer Trägerschaft, das sind oft diakonische Werke. Hier in Berlin ist es die Berliner Stadtmission, mein Arbeitgeber.

Uns eint: Wir sind an Bahnhöfen. Eine Bahnhofsmission kannst du nicht in der Einkaufsstraße öffnen. Und du hast etwas mit bahnreisenden Menschen zu tun. Wer bringt den blinden Herrn Meier von Bahnsteig A zu Bahnsteig B? Es ist auch für uns am Zoo noch immer ein Klassiker. Wo kann sich jemand aufhalten? Wohin geht die alleinerziehende Mutter mit drei Kindern, wenn sie drei Stunden im Bahnhof Aufenthalt hat und nicht das Geld hat, um in der VIP-Lounge einen Kaffee nach dem anderen für drei Euro zu trinken? Wo kannst du dein Kind wickeln? Woher bekommst du eine Beratung? Wer geht auf Bahnhöfen entlang und schaut, wie es den Menschen geht, und sagt, wenn da jemand zusammengesunken sitzt: "Geht es Ihnen noch gut?" Das sind Angebote für Bürgerinnen und Bürger.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch:"Dieter Puhl, Glück und Leid am Bahnhof Zoo. Ein Leben für die Bahnhofsmission". Das Buch ist erschienen im Kreuz Verlag, 136 Seiten kosten 15 Euro, ein Euro pro verkauftem Exemplar geht direkt an die Bahnhofsmission Zoo.

Ein Gespräch, das Ulrike Bieritz mit Dieter Puhl fürs Inforadio geführt hat, können Sie hier nachhören.

Infos Zur Bahnhofsmission:
Berliner Stadtmission
Bahnhofsmission am Zoo
Jebenstraße 5
10623 Berlin
Telefon (030) 3138088
www.berliner-stadtmission.de